Friedrich Engels: Die Lage Englands
[»Vorwärts!« Nr. 70 vom 31. August 1844]
I. Das achtzehnte Jahrhundert
|550| Dem Anscheine nach ist das Jahrhundert der Revolution an England ohne viel Veränderung vorübergegangen. Während auf dem Kontinent eine ganze alte Welt zertrümmert wurde, während ein fünfundzwanzigjähriger Krieg die Atmosphäre reinigte, blieb in England alles ruhig, wurde weder Staat noch Kirche irgendwie bedroht. Und doch hat England seit der Mitte des vergangnen Jahrhunderts eine größere Umwälzung durchgemacht als irgendein anderes Land - eine Umwälzung, die um so folgenreicher ist, je stiller sie bewerkstelligt wurde, und die deshalb aller Wahrscheinlichkeit nach ihr Ziel eher in der Praxis erreichen wird als die französische politische oder die deutsche philosophische Revolution. Die Revolution Englands ist eine soziale und daher umfassender und eingreifender als irgendeine andere. Es gibt kein noch so entlegenes Gebiet menschlicher Erkenntnis und menschlicher Lebensverhältnisse, das nicht zu ihr beigetragen und wiederum von ihr eine veränderte Stellung empfangen hätte. Die soziale Revolution ist erst die wahre Revolution, in der die politische und philosophische Revolution ausmünden müssen; und diese soziale Revolution ist in England schon seit siebzig oder achtzig Jahren im Gange und geht eben jetzt mit raschen Schritten ihrer Krisis entgegen.
Das achtzehnte Jahrhundert war die Zusammenfassung, die Sammlung der Menschheit aus der Zersplitterung und Vereinzelung, in die sie durch das Christentum geworfen war; der vorletzte Schritt zur Selbsterkenntnis und Selbstbefreiung der Menschheit, der aber als der vorletzte darum auch noch einseitig im Widerspruch steckenblieb. Das achtzehnte Jahrhundert faßte die Resultate der bisherigen Geschichte, die bis dahin nur vereinzelt und in der Form der Zufälligkeit aufgetreten waren, zusammen und entwickelte ihre Notwendigkeit und ihre innere Verkettung. Die zahllosen, |551| durcheinander gewürfelten Data der Erkenntnis wurden geordnet, gesondert und in Kausalverbindung gebracht; das Wissen wurde Wissenschaft, und die Wissenschaften näherten sich ihrer Vollendung, d.h. knüpften sich auf der einen Seite an die Philosophie, auf der andern an die Praxis an. Vor dem achtzehnten Jahrhunderte gab es keine Wissenschaft; die Erkenntnis der Natur nahm ihre wissenschaftliche Form erst im achtzehnten Jahrhundert an oder in einigen Zweigen ein paar Jahre vorher. Newton schuf die wissenschaftliche Astronomie durch das Gravitationsgesetz, die wissenschaftliche Optik durch die Zersetzung des Lichts, die wissenschaftliche Mathematik durch den binomischen Satz und die Theorie des Unendlichen und die wissenschaftliche Mechanik durch die Erkenntnis der Natur der Kräfte. Die Physik erhielt ebenfalls im achtzehnten Jahrhundert ihren wissenschaftlichen Charakter; die Chemie wurde durch Black, Lavoisier und Priestley erst geschaffen; die Geographie wurde durch die Bestimmung der Gestalt der Erde und die vielen, jetzt erst mit Nutzen für die Wissenschaft unternommenen Reisen zur Wissenschaft erhoben; ebenso die Naturgeschichte durch Buffon und Linné; selbst die Geologie fing allmählich an, sich aus dem Strudel phantastischer Hypothesen, in dem sie verkam, herauszuarbeiten. Der Gedanke der Enzyklopädie war für das achtzehnte Jahrhundert charakteristisch; er beruhte auf dem Bewußtsein, daß alle diese Wissenschaften unter sich zusammenhängen, war aber noch nicht imstande, die Übergänge zu machen, und konnte sie daher nur einfach nebeneinanderstellen. Ebenso in der Geschichte; wir finden jetzt zuerst bändereiche Kompilationen der Weltgeschichte, noch ohne Kritik und vollends ohne Philosophie, aber doch allgemeine Geschichte anstatt der bisherigen lokal und zeitlich beschränkten Geschichtsfragmente. Die Politik wurde auf eine menschliche Basis gestellt und die Nationalökonomie durch Adam Smith reformiert. Die Spitze der Wissenschaft des achtzehnten Jahrhunderts war der Materialismus, das erste System der Naturphilosophie und die Folge jener Vollendung der Naturwissenschaften. Der Kampf gegen die abstrakte Subjektivität des Christentums trieb die Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts auf die entgegengesetzte Einseitigkeit; der Subjektivität wurde die Objektivität, dem Geist die Natur, dem Spiritualismus der Materialismus, dem abstrakt Einzelnen das abstrakt Allgemeine, die Substanz, entgegengesetzt. Das achtzehnte Jahrhundert war die Wiederbelebung des antiken Geistes gegenüber dem christlichen; Materialismus und Republik, die Philosophie und Politik der alten Welt, erstanden aufs neue, und die Franzosen, die Repräsentanten des antiken Prinzips innerhalb des Christentums, bemächtigten sich für eine Zeitlang der historischen Initiative.
|552| Das achtzehnte Jahrhundert löste also den großen Gegensatz nicht, der die Geschichte von Anfang an beschäftigt hat und dessen Entwicklung die Geschichte ausmacht, den Gegensatz von Substanz und Subjekt, Natur und Geist, Notwendigkeit und Freiheit; es stellte aber die Seiten des Gegensatzes in ihrer ganzen Schroffheit und vollkommen entwickelt einander gegenüber und machte dadurch seine Aufhebung notwendig. Die Folge dieser klaren, letzten Entwicklung des Gegensatzes war die allgemeine Revolution, die sich auf die verschiedenen Nationalitäten verteilte, und deren bevorstehende Vollendung zugleich die Lösung des Gegensatzes der bisherigen Geschichte sein wird. Die Deutschen, das christlich-spiritualistische Volk, erlebten eine philosophische Revolution; die Franzosen, das antik-materialistische, daher politische Volk, hatten die Revolution auf politischem Wege durchzumachen; die Engländer, deren Nationalität eine Mischung deutscher und französischer Elemente ist, die also beide Seiten des Gegensatzes in sich tragen und deshalb universeller sind als ein jeder der beiden Faktoren für sich, wurden daher auch in eine universellere, eine soziale Revolution hereingerissen. - Dies wird näherer Ausführung bedürfen, da die Stellung der Nationalitäten wenigstens für die neuere Zeit in unserer Geschichtsphilosophie bis jetzt sehr ungenügend oder vielmehr gar nicht behandelt worden ist,
Daß Deutschland, Frankreich und England die drei leitenden Länder der gegenwärtigen Geschichte sind, darf ich wohl als zugegeben annehmen; daß die Deutschen das christlich-spiritualistische, die Franzosen das antik-materialistische Prinzip, mit andern Worten, daß jene die Religion und Kirche, diese die Politik und den Staat vertreten, ist ebenso einleuchtend oder wird es seinerzeit schon gemacht werden; die Bedeutung der Engländer in der neueren Geschichte ist weniger in die Augen fallend und für unsern gegenwärtigen Zweck auch am wichtigsten. Die englische Nation wurde gebildet von Germanen und Romanen zu einer Zeit, wo beide Nationen sich erst eben voneinander geschieden und ihre Entwicklung zu den beiden Seiten des Gegensatzes kaum begonnen hatten. Die germanischen und romanischen Elemente entwickelten sich nebeneinander und bildeten zuletzt eine Nationalität, die beide Einseitigkeiten unvermittelt in sich trägt. Der germanische Idealismus behielt so viel freies Spiel, daß er sogar in sein Gegenteil, die abstrakte Äußerlichkeit, umschlagen konnte; die noch gesetzliche Verkäuflichkeit der Weiber und Kinder, und der Handelsgeist der Engländer überhaupt, ist entschieden auf Rechnung des germanischen Elements zu bringen. Ebenso schlug der romanische Materialismus in abstrakten Idealismus, Innerlichkeit und Religiosität um; daher das Phänomen der Fortdauer des romanischen Katholizismus innerhalb des germanischen |553| Protestantismus, die Staatskirche, das Papsttum der Fürsten und die durchaus katholische Art, die Religion mit Förmlichkeiten abzufertigen. Der Charakter der englischen Nationalität ist der ungelöste Widerspruch, die Vereinigung der schroffsten Kontraste. Die Engländer sind das religiöseste Volk der Welt und zu gleicher Zeit das irreligiöseste; sie plagen sich mehr um das Jenseits als irgendeine andre Nation, und doch leben sie dabei, als ob das Diesseits ihr Eins und Alles sei; ihre Aussicht auf den Himmel hindert sie nicht im mindesten, ebenso fest an die »Hölle des Kein-Geld-Verdienens« zu glauben. Daher die ewige innere Unruhe der Engländer, die das Gefühl der Unfähigkeit, den Widerspruch zu lösen, ist und sie aus sich selbst heraus zur Tätigkeit treibt. Das Gefühl des Widerspruchs ist die Quelle der Energie, aber der sich bloß entäußernden Energie, und dies Gefühl des Widerspruchs war die Quelle der Kolonisation, der Schiffahrt, der Industrie und überhaupt der ungeheuren praktischen Tätigkeit der Engländer. Die Unfähigkeit, den Widerspruch zu lösen, geht durch die ganze englische Philosophie hindurch und treibt sie auf die Empirie und den Skeptizismus. Weil Bacon mit seiner Vernunft den Widerspruch von Idealismus und Realismus nicht lösen konnte, mußte die Vernunft überhaupt dazu unfähig sein, der Idealismus kurzweg verworfen und in der Empirie das einzige Rettungsmittel gesehen werden. Aus derselben Quelle geht die Kritik des Erkenntnisvermögens und die psychologische Richtung überhaupt hervor, in der die englische Philosophie sich von Anfang an ausschließlich bewegt hat, und die dann zuletzt, nach allen vergeblichen Versuchen, den Widerspruch zu lösen, ihn für unlösbar, die Vernunft für unzureichend erklärt und entweder im religiösen Glauben oder in der Empirie Rettung sucht. Der Humesche Skeptizismus ist noch heutzutage die Form alles irreligiösen Philosophierens in England. Wir können nicht wissen, räsoniert diese Anschauungsweise, ob ein Gott existiert; wenn einer existiert, so ist jede Kommunikation mit uns für ihn unmöglich, und wir haben also unsre Praxis so einzurichten, als ob keiner existierte. Wir können nicht wissen, ob der Geist vom Körper verschieden und unsterblich ist; wir leben also so, als ob dies Leben unser einziges wäre, und plagen uns nicht mit Dingen, die über unsern Verstand gehen. Kurz, die Praxis dieses Skeptizismus ist genau der französische Materialismus; aber in der metaphysischen Theorie bleibt er in der Unfähigkeit der definitiven Entscheidung stecken. - Weil die Engländer aber beide Elemente, die auf dem Kontinent die Geschichte entwickelten, in sich trugen, darum waren sie imstande, selbst ohne viel mit dem Kontinent zu verkehren, doch mit der Bewegung Schritt zu halten und ihr zuweilen sogar voraus zu sein. Die englische Revolution des siebzehnten Jahrhunderts ist genau das Vorbild |554| der französischen von 1789. Im »langen Parlament« sind die drei Stufen, die in Frankreich als konstituierende und legislative Versammlung und Nationalkonvent auftraten, leicht zu unterscheiden; der Übergang von konstitutioneller Monarchie zur Demokratie, Militärdespotismus, Restauration und juste-milieu-Revolution ist in der englischen Revolution scharf ausgeprägt. Cromwell ist Robespierre und Napoleon in einer Person; der Gironde, dem Berg und den Hebertisten und Babouvisten entsprechen die Presbyterianer, Independenten und Levellers; das politische Resultat ist bei beiden ziemlich kläglich, und die ganze Parallele, die noch viel genauer ausgeführt werden könnte, beweist nebenbei auch, daß die religiöse und die irreligiöse Revolution, solange sie politisch bleiben, beide am Ende auf eines herauskommen. Freilich war dies Voraussein der Engländer vor dem Kontinent nur momentan und glich sich allmählich wieder aus; die englische Revolution endigte im juste-milieu und der Schöpfung der beiden nationalen Parteien, während die französische noch nicht abgeschlossen ist und sich nicht abschließen kann, bevor sie bei demselben Resultat angekommen ist, bei dem die deutsche philosophische und die englische soziale Revolution anzukommen haben.
Der englische Nationalcharakter ist so vom deutschen sowohl wie vom französischen wesentlich verschieden; die Verzweiflung an der Aufhebung des Gegensatzes und die daraus folgende totale Hingebung an die Empirie ist ihm eigentümlich. Auch das reine Germanentum verkehrte seine abstrakte Innerlichkeit in abstrakte Äußerlichkeit, aber diese Äußerlichkeit verlor die Spur ihres Ursprungs nie und blieb der Innerlichkeit und dem Spiritualismus stets untergeordnet. Auch die Franzosen stehen auf der materiellen, empirischen Seite; aber weil diese Empirie unmittelbare Nationalrichtung, nicht eine sekundäre Folge eines in sich selbst zerspaltenen Nationalbewußtseins ist, macht sie sich in nationaler, allgemeiner Weise geltend, äußert sie sich als politische Tätigkeit. Der Deutsche behauptete die absolute Berechtigung des Spiritualismus und suchte die allgemeinen Interessen der Menschheit daher in der Religion und später in der Philosophie zu entwickeln. Der Franzose stellte diesem Spiritualismus den Materialismus als absolut berechtigt gegenüber und nahm infolgedessen den Staat als die ewige Form dieser Interessen an. Der Engländer aber hat keine allgemeinen Interessen, er kann von ihnen nicht reden, ohne den wunden Fleck, den Widerspruch zu berühren, er verzweifelt an ihnen und hat nur Einzelinteressen. Diese absolute Subjektivität, die Zersplitterung des Allgemeinen in die vielen Einzelnen ist allerdings germanischen Ursprungs, aber wie gesagt, von ihrer Wurzel getrennt und darum bloß empirisch wirksam, und |555| unterscheidet eben die englische soziale von der französischen politischen Empirie. Frankreichs Tätigkeit war stets national, von vornherein ihrer Ganzheit und Allgemeinheit sich bewußt; Englands Tätigkeit war die Arbeit unabhängiger, nebeneinanderstehender Individuen, die Bewegung unverbundner Atome, die selten und dann nur aus individuellem Interesse, als ein Ganzes zusammenwirkten, und deren Einheitslosigkeit gerade jetzt in allgemeinem Elend und gänzlicher Zersplitterung ans Tageslicht tritt.
Mit andern Worten, nur England hat eine soziale Geschichte. Nur in England haben die Individuen als solche, ohne mit Bewußtsein allgemeine Prinzipien zu vertreten, die nationale Entwicklung gefördert und ihrem Abschluß nahegebracht. Nur hier hat die Masse als Masse, um ihrer eignen Einzelinteressen willen, gewirkt; nur hier sind die Prinzipien in Interessen verwandelt worden, ehe sie auf die Geschichte Einfluß haben konnten. Die Franzosen und Deutschen kommen auch allmählich zur sozialen Geschichte, aber sie haben sie noch nicht. Auch auf dem Kontinent hat es Armut, Elend und sozialen Druck gegeben, aber das blieb ohne Wirkung auf die nationale Entwicklung; aber das Elend und die Armut der arbeitenden Klasse des heutigen Englands hat nationale, und mehr als das, hat weltgeschichtliche Bedeutung. Das soziale Moment ist auf dem Kontinent noch ganz unter dem politischen vergraben, hat sich noch gar nicht von ihm getrennt, während in England das politische Moment allmählich von dem sozialen überwunden und ihm dienstbar geworden ist. Alle englische Politik ist im Grunde sozialer Natur, und nur weil England noch nicht über den Staat hinausgekommen, weil die Politik ein Notbehelf für es ist, nur darum äußern sich die sozialen Fragen politisch.
Solange Staat und Kirche die einzigen Formen sind, in denen die allgemeinen Bestimmungen des menschlichen Wesens sich verwirklichen, solange kann von sozialer Geschichte nicht die Rede sein. Das Altertum und das Mittelalter konnten daher auch keine soziale Entwicklung aufweisen; erst die Reformation, der erste, noch befangene und dumpfe Versuch einer Reaktion gegen das Mittelalter, brachte einen sozialen Umschwung, die Verwandlung der Leibeignen in »freie« Arbeiter, hervor. Aber auch dieser Umschwung blieb ohne viel nachhaltige Wirkung auf dem Kontinent, ja er setzte sich hier eigentlich erst mit der Revolution des achtzehnten Jahrhunderts durch; während in England mit der Reformation das Geschlecht der Leibeignen in vilains, bordars, cottars und so in eine Klasse persönlich freier Arbeiter verwandelt wurde und das achtzehnte Jahrhundert hier bereits die Konsequenzen dieser Umwälzung entwickelte. Warum dies nur in England geschah, ist oben auseinandergesetzt.
[»Vorwärts!« Nr. 71 vom 4. September 1844]
|556|Das Altertum, das noch nichts von dem Rechte des Subjekts wußte, dessen ganze Weltanschauung wesentlich abstrakt, allgemein, substantiell war, konnte deshalb nicht ohne die Sklaverei bestehen. Die christlich-germanische Weltansicht stellte die abstrakte Subjektivität, daher die Willkür, die Innerlichkeit, den Spiritualismus dem Altertum gegenüber als Grundprinzip auf; diese Subjektivität mußte aber, eben weil sie abstrakt, einseitig war, sogleich sich in ihr Gegenteil verkehren und statt der Freiheit des Subjekts die Sklaverei des Subjekts erzeugen. Die abstrakte Innerlichkeit wurde abstrakte Äußerlichkeit, Wegwerfung und Veräußerung des Menschen, und die erste Folge des neuen Prinzips war die Wiederherstellung der Sklaverei in einer andern, weniger anstößigen, aber darum heuchlerischen und unmenschlicheren Gestalt, der Leibeigenschaft. Die Auflösung des Feudalsystems, die politische Reformation, d.h. die scheinbare Anerkennung der Vernunft, und daher die wirkliche Vollendung der Unvernunft, hob diese Leibeigenschaft scheinbar auf, machte sie aber in der Wirklichkeit nur unmenschlicher und allgemeiner. Sie sprach zuerst aus, daß die Menschheit nicht mehr durch Zwang, d.h. durch politische, sondern durch das Interesse, d.h. durch soziale Mittel zusammengehalten werden solle, und legte durch dies neue Prinzip die Basis zur sozialen Bewegung. Aber, obwohl sie den Staat so negierte, stellte sie ihn auf der andern Seite erst recht wieder her, indem sie ihm den bisher von der Kirche usurpierten Inhalt zurückgab und dadurch dem während des Mittelalters inhaltlose und nichtigen Staat die Kraft einer neuen Entwicklung verlieh. Aus den Ruinen des Feudalismus entstand der christliche Staat, die Vollendung des christlichen Weltzustandes nach der politischen Seite hin; durch die Erhebung des Interesses zum allgemeinen Prinzip vollendete sich dieser christliche Weltzustand nach einer andern Seite. Denn das Interesse ist wesentlich subjektiv, egoistisch, Einzelinteresse, und als solches die höchste Spitze des germanisch-christlichen Subjektivitäts- und Vereinzelungsprinzips. Die Folge der Erhebung des Interesses zum Bande der Menschheit ist, solange das Interesse eben unmittelbar subjektiv, einfach egoistisch bleibt, notwendig die allgemeine Zersplitterung, die Konzentrierung der Individuen auf sich selbst, die Isolierung, die Verwandlung der Menschheit in einen Haufen einander abstoßender Atome; und diese Vereinzelung ist wiederum die letzte Konsequenz des christlichen Subjektivitätsprinzips, die Vollendung des christlichen Weltzustandes. - Solange ferner die Grundveräußerung, das Privateigentum bestehenbleibt, solange muß das Interesse notwendig Einzelinteresse sein und seine Herrschaft sich als die Herrschaft des Eigentums |557| erweisen. Die Auflösung der feudalen Knechtschaft hat »bare Zahlung zum einzigen Bande der Menschheit« gemacht. Das Eigentum, das dem menschlichen, geistigen gegenüberstehende, natürliche, geistlose Element, wird dadurch auf den Thron erhoben, und in letzter Instanz, um diese Veräußerung zu vollenden, das Geld, die veräußerte, leere Abstraktion des Eigentums, zum Herrn der Welt gemacht. Der Mensch hat aufgehört, Sklave des Menschen zu sein und ist Sklave der Sache geworden; die Verkehrung der menschlichen Verhältnisse ist vollendet; die Knechtschaft der modernen Schacherwelt, die ausgebildete, vollkommne, universelle Verkäuflichkeit ist unmenschlicher und allumfassender als die Leibeigenschaft der Feudalzeit; die Prostitution ist unsittlicher, bestialischer als das jus primae noctis |Recht der ersten Nacht|. - Höher kann der christliche Weltzustand nicht getrieben werden; er muß in sich selbst zusammenbrechen und einem menschlichen, vernünftigen Zustande Platz machen. Der christliche Staat ist nur die letzte mögliche Erscheinungsform des Staats überhaupt, mit dessen Fall der Staat als solcher fallen muß. Die Auflösung der Menschheit in eine Masse isolierter, sich abstoßender Atome ist an sich selbst schon die Vernichtung aller korporativen, nationalen und überhaupt besonderen Interessen und die letzte notwendige Stufe zur freien Selbstvereinigung der Menschheit. Die Vollendung der Veräußerung in der Herrschaft des Geldes ist ein unvermeidlicher Durchgang, wenn der Mensch, wie er denn jetzt nahe daran ist, wieder zu sich selbst kommen soll.
Die soziale Revolution in England hat diese Konsequenzen der Aufhebung des Feudalsystems so weit entwickelt, daß die Krisis, die den christlichen Weltzustand vernichten wird, nicht mehr fern sein kann, ja, daß die Epoche dieser Krisis, wenn auch nicht in Jahren und quantitativ, so doch qualitativ mit Bestimmtheit vorausgesagt werden kann; diese Krisis muß nämlich eintreten, sobald die Korngesetze abgeschafft und die Volks-Charte eingeführt, d.h., sobald die Adelsaristokratie durch die Geldaristokratie und diese durch die arbeitende Demokratie politisch besiegt ist.
Das sechzehnte und siebzehnte Jahrhundert hatten alle Voraussetzungen der sozialen Revolution ins Leben gerufen, das Mittelalter aufgelöst, den sozialen, politischen und religiösen Protestantismus etabliert, die Kolonien, die Seemacht und den Handel Englands geschaffen und eine zunehmende, schon ziemlich mächtige Mittelklasse neben die Aristokratie gestellt. Die sozialen Verhältnisse setzten sich allmählich nach den Unruhen des siebzehnten Jahrhunderts und nahmen eine feste Gestalt an, die sie bis gegen 1780 oder 1790 hin behielten.
|558| Es gab damals drei Klassen von Grundbesitzern, die adligen Landlords, noch die einzige und unangegriffene Aristokratie des Reichs, die ihre Grundstücke in Parzellen verpachtete und die Renten in London oder auf Reisen verzehrte; die nichtadligen Landlords oder Country Gentlemen (gewöhnlich Squires betitelt), die auf ihren Landsitzen lebten, ihr Land verpachteten und die aristokratische Auszeichnung, die ihrer niedrigen Geburt, ihrem Mangel an Bildung und ihrem bäurisch derben Wesen in den Städten verweigert wurde, dafür von ihren Pächtern und den andern Bewohnern der Umgegend genossen. Diese Klasse ist jetzt total verschwunden. Die alten Squires, die unter den Landleuten der Umgegend mit patriarchalischer Autorität herrschten, Ratgeber, Schiedsrichter, alles in allem waren, sind ganz ausgestorben; ihre Nachkommen nennen sich die unbetitelte Aristokratie Englands, wetteifern an Bildung und feinem Benehmen, an Aufwand und aristokratischem Wesen mit dem Adel, der wenig mehr vor ihnen voraushat, und haben mit ihren ungeschliffenen und derben Voreltern nur den Grundbesitz gemein. - Die dritte Klasse der Grundbesitzer waren die Yeomen, Eigentümer kleiner Parzellen, die sie selbst bebauten, gewöhnlich auf die gute alte nachlässige Weise ihrer Vorfahren; auch diese Klasse ist aus England verschwunden, die soziale Revolution hat sie expropriiert und das Kuriosum zustande gebracht, daß zu derselben Zeit, wo in Frankreich der große Grundbesitz gewaltsam parzelliert wurde, in England die Parzellen von dem großen Grundbesitz attrahiert und verschlungen wurden. Neben den Yeomen standen kleine Pächter, die gewöhnlich außer ihrem Landbau noch Weberei betrieben; auch sie sind im heutigen England nicht mehr zu finden; fast alles Land ist jetzt in wenige und große Güter geteilt und so verpachtet. Die Konkurrenz der großen Pächter schlug die kleinen Pächter und Yeomen aus dem Markt und verarmte sie; sie wurden Ackerbautaglöhner und vom Arbeitslohn abhängige Weber und lieferten die Massen, von deren Zufluß die Städte mit so wunderbarer Schnelligkeit zunahmen.
Die Bauern führten also seinerzeit ein stilles und geruhiges Leben in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit, lebten ohne viel Sorgen, aber auch ohne Bewegung, ohne allgemeines Interesse, ohne Bildung, ohne geistige Tätigkeit; sie waren noch auf der vorgeschichtlichen Stufe. Die Lage der Städte war nicht viel anders. Nur London war ein bedeutender Handelsplatz; Liverpool, Hull, Bristol, Manchester, Birmingham, Leeds, Glasgow waren noch nicht der Rede wert. Die Hauptindustriezweige, Spinnen und Weben, wurden meist auf dem Lande und wenigstens außerhalb der Städte, in der Umgegend, betrieben; die Anfertigung von Metall- und Töpferwaren stand noch auf der handwerksmäßigen Stufe der Entwickelung; was konnte also viel |559| in den Städten geschehen? Die unübertreffliche Einfachheit des Wahlsystems überhob die Bürger aller politischen Sorge, man war nominell Whig oder Tory, wußte aber sehr gut, daß das im Grunde gleichgültig sei, da man kein Stimmrecht hatte; kleine Kaufleute, Krämer und Handwerker machten die ganze Bürgerschaft aus und führten das bekannte, dem heutigen Engländer so ganz unbegreifliche Kleinstädterleben. Die Bergwerke wurden noch wenig benutzt; Eisen, Kupfer und Zinn lagen ziemlich ruhig in der Erde, und Kohlen wurden nur für häusliche Zwecke benutzt. Kurz, England war damals in einem Zustande, in dem sich, schlimm genug, der größte Teil Frankreichs und besonders Deutschlands noch befindet, in einem Zustande vorsündflutlicher Apathie gegen alles allgemeine und geistige Interesse, in der sozialen Kindheit, in der es noch keine Gesellschaft, noch kein Leben, kein Bewußtsein, keine Tätigkeit gibt. Dieser Zustand ist de facto die Fortsetzung des Feudalismus und der mittelalterlichen Gedankenlosigkeit und wird erst mit dem Auftreten des modernen Feudalismus, mit der Spaltung der Gesellschaft in Besitzer und Nichtbesitzer, überwunden. Wir auf dem Kontinent, wie gesagt, stecken noch tief in diesem Zustande; die Engländer haben ihn seit achtzig Jahren bekämpft und seit vierzig Jahren überwunden. Wenn die Zivilisation eine Sache der Praxis, eine soziale Qualität ist, so sind die Engländer allerdings das zivilisierteste Volk der Welt.
Ich sagte oben, die Wissenschaften hätten im achtzehnten Jahrhundert ihre wissenschaftliche Form angenommen und infolgedessen einerseits an die Philosophie, anderseits an die Praxis angeknüpft. Das Resultat ihrer Anknüpfung an die Philosophie war der Materialismus (der ebensosehr Newton wie Locke zu seiner Voraussetzung hat), die Aufklärung, die französische politische Revolution. Das Resultat ihrer Anknüpfung an die Praxis war die englische soziale Revolution.
1760 kam Georg III. zur Regierung, trieb die Whigs, die seit Georg I. fast ununterbrochen im Ministerium gewesen waren, aber natürlich durchaus konservativ regiert hatten, heraus und legte die Basis zu dem bis 1830 dauernden Monopol der Tories. Die Regierung erhielt dadurch ihre innere Wahrheit wieder; in einer politisch konservativen Epoche Englands war es durchaus billig, daß die konservative Partei regieren sollte. Die soziale Bewegung absorbierte von nun an die Kräfte der Nation und drängte das politische Interesse zurück, ja zerstörte es, denn alle innere Politik ist von nun an nur versteckter Sozialismus, die Form, die die sozialen Fragen annehmen, um in allgemeiner, nationaler Weise sich geltend machen zu können.
1763 begann Dr. James Watt von Greenock, sich mit der Konstruktion der Dampfmaschine zu beschäftigen und vollendete sie 1768.
|560| 1763 legte Josiah Wedgwood durch Einführung wissenschaftlicher Prinzipien den Grund zur englischen Töpferei. Durch seine Bemühungen ist ein wüster Landstrich in Staffordshire in eine gewerbfleißige Gegend - die Potteries - umgeschaffen, die jetzt 60.000 Menschen beschäftigt und in der sozial-politischen Bewegung der letzten Jahre eine sehr wichtige Rolle gespielt hat.
1764 erfand James Hargreaves in Lancashire die spinning-jenny, eine Maschine, die von einem Arbeiter getrieben, ihn instand setzte, sechzehnmal mehr als auf dem alten Spinnrade zu spinnen.
1768 erfand Richard Arkwright, ein Barbier aus Preston in Lancashire, die spinning-throstle, die erste Spinnmaschine, die von vornherein auf mechanische Triebkraft berechnet war. Sie produzierte water-twist, d.h. das beim Verweben als Kette gebrauchte Garn.
1776 erfand Samuel Crompton in Bolton, Lancashire, die spinning-mule durch eine Vereinigung der bei der Jenny und Throstle angewandten mechanischen Prinzipien. Die Mule, wie die Jenny, spinnt den mule-twist, d.h. den Einschlag des Webers; alle drei Maschinen sind für die Verarbeitung der Baumwolle bestimmt.
1787 erfand Dr. Cartwright den mechanischen Webstuhl, der indes noch mehrere Verbesserungen erlitt und erst 1801 praktisch angewendet werden konnte.
Diese Erfindungen regten die soziale Bewegung an. Ihre nächste Folge war das Entstehen der englischen Industrie, und zwar zuerst der Baumwollenverarbeitung. Die Jenny hatte zwar die Erzeugung des Garns billiger gemacht und durch die hieraus erfolgende Erweiterung des Marktes der Industrie den ersten Anstoß gegeben; aber sie ließ die soziale Seite, die Art des Industriebetriebs, ziemlich unberührt. Erst Arkwrights und Cromptons Maschinen und Watts Dampfmaschine brachten die Bewegung in Gang, indem sie das Fabriksystem schufen. Kleinere, durch Pferde oder Wasserkraft getriebene Fabriken erstanden zuerst, wurden aber bald durch die größeren, mit Wasser oder Dampf getriebenen Fabriken verdrängt. Die erste Dampfspinnerei wurde 1785 in Nottinghamshire durch Watt angelegt; ihr folgten andere, und bald wurde das neue System allgemein. Die Ausdehnung der Dampfspinnerei, wie alle anderen gleichzeitigen und späteren industriellen Reformen, ging mit einer ungeheuern Schnelligkeit vorwärts. Die Einfuhr roher Baumwolle, die 1770 noch unter fünf Millionen Pfund jährlich war, stieg auf 54 Millionen Pfund (1800) und 1836 auf 360 Millionen Pfund. Jetzt kam der Dampfwebstuhl zur praktischen Anwendung und gab dem industriellen Fortschritt neuen Impuls; sämtliche Maschinen erfuhren unzählbare |561|* kleine, aber in ihrer Summe sehr bedeutende Verbesserungen, und jede neue Verbesserung hatte günstigen Einfluß auf die Ausdehnung des ganzen industriellen Systems. Alle Zweige der Baumwollenindustrie wurden revolutioniert; die Druckerei wurde durch Anwendung mechanischer Hülfen und zugleich mit der Färberei und Bleicherei durch den Fortschritt der Chemie unendlich gehoben; die Fabrikation von Strumpfwaren wurde mit in den Strom gerissen; seit 1809 wurden feine Baumwollsachen, Tüll, Spitzen usw. mit Maschinen gemacht. Mir fehlt hier der Raum, den Fortschritt der Baumwollenfabrikation durch die Details seiner Geschichte zu verfolgen; ich kann nur das Resultat geben, und das wird, der vorsündflutlichen Industrie mit ihren 4 Millionen Pfund Baumwolleneinfuhr, mit ihrem Spinnrade, Handkratze und Handwebstuhl gegenüber, seinen Eindruck nicht verfehlen.
1833 wurden im britischen Reich 10.264 Millionen Stränge Garn gesponnen, deren Länge über 5.000 Millionen Meilen beträgt, 350 Millionen Ellen Baumwollengewebe gedruckt; 1.300 Baumwollenfabriken waren in Arbeit, in denen 237.000 Spinner und Weber arbeiteten; über 9 Millionen Spindeln, 100.000 Dampf- und 240.000 Handwebstühle, 33.000 Strumpfwebstühle und 3.500 Bobbinetmaschinen waren in Arbeit; 33.000 Pferdekraft Dampf, 11.000 Pferdekraft Wasser trieben Maschinen zur Verarbeitung von Baumwolle, und anderthalb Millionen Menschen lebten direkt oder indirekt von diesem Industriezweige. Lancashire nährt sich allein, Lanarkshire großenteils vom Spinnen und Weben der Baumwolle; Nottinghamshire, Derbyshire und Leicestershire sind die Hauptsitze der untergeordneten Zweige der Baumwollenindustrie. Die Quantität der ausgeführten Baumwollenwaren hat sich seit 1801 verachtfacht; die Masse der im Lande selbst verbrauchten ist noch viel mehr gestiegen.
[»Vorwärts!« Nr. 72 vom 7. September 1844]
Der der Baumwollenfabrikition gegebene Anstoß teilte sich bald den übrigen Industriezweigen mit. Die Wollenindustrie war bis dahin der Haupterwerbszweig gewesen; sie wurde jetzt von der Baumwolle zurückgedrängt, aber statt abzunehmen, dehnte sie sich ebenfalls aus. 1785 lag die ganze in drei Jahren gesammelte Wolle unverarbeitet da; die Spinner konnten sie nicht aufarbeiten, solange sie bei ihrem unbeholfenen Spinnrad blieben. Da fing man an, die Baumwollspinnmaschinen auf Wolle anzuwenden, was nach einigen Veränderungen vollkommen gelang, und nun erfuhr die Wollenindustrie dieselbe rasche Ausdehnung, die wir schon bei der Baumwollenfabrikation gesehen haben. Die Einfuhr roher Wolle stieg von 7 Millionen Pfund (1801) auf 42 Millionen Pfund (1835); in letzterem Jahre waren |562| 1.300 Wollenfabriken mit 71.300 Arbeitern in Tätigkeit, ungerechnet einer Masse von Handwebern, die zu Hause arbeiten, und Druckern, Färbern, Bleichern etc. etc., die ebenfalls indirekt von der Wollenverarbeitung leben. Die Hauptsitze dieses Industriezweiges sind das West-Riding von Yorkshire und der »Westen von England« (besonders Somersetshire, Wiltshire etc.).
Die Leinenindustrie hatte früher ihren Hauptsitz in Irland. Gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts wurden die ersten Fabriken zur Verarbeitung des Flachses, und zwar in Schottland errichtet. Die Maschinerie war indes noch sehr unvollkommen; das Material legte Schwierigkeiten in den Weg, die bedeutende Modifikationen der Maschinen erforderten. Der Franzose Girard (1810) vervollkommnete sie zuerst; aber erst in England wurden diese Verbesserungen praktisch wichtig. Die Anwendung des Dampfwebstuhls auf Leinen wurde noch später durchgeführt; und von jetzt an hob sich die Leinenfabrikation, obwohl sie von der Konkurrenz der Baumwolle zu leiden hatte, mit ungeheurer Schnelligkeit. In England wurde Leeds, in Schottland Dundee, in Irland Belfast ihr Zentralpunkt. Dundee allein importierte 1814: 3.000, 1834: 19.000 Tons Flachs. Die Leinenausfuhr Irlands, wo sich die Handweberei noch neben der Dampfweberei gehalten hat, stieg von 1800 bis 1825 um 20 Millionen Yards, die fast alle nach England gingen und von da aus teilweise wieder ausgeführt wurden; die Ausfuhr des ganzen britischen Reichs nach fremden Ländern stieg von 1820 bis 1833 um 27 Millionen Yards; 1835 waren 347 Flachsfabriken in Arbeit, von denen 170 in Schottland; in diesen Fabriken waren 33.000 Arbeiter beschäftigt, ungerechnet die vielen irischen Handwerker.
Die Seidenindustrie wurde erst seit 1824 durch die Abschaffung der drückenden Zölle wichtig; seitdem hat sich die Einfuhr roher Seide verdoppelt und die Zahl der Fabriken auf 266 mit 30.000 Arbeitern vermehrt. Der Hauptsitz dieses Industriezweiges ist Cheshire (Macclesfield, Congleton und Umgegend), dann Manchester, und in Schottland Paisley. Der Sitz der Bandwirkerei ist Coventry in Warwickshire.
Diese vier Industriezweige, die Anfertigung von Garn und Geweben, wurden so total revolutioniert. An die Stelle der häuslichen Arbeit trat die gemeinschaftliche Arbeit in großen Gebäuden; die Handarbeit wurde durch die Triebkraft des Dampfs und die Tätigkeit der Maschinen ersetzt. Mit Hülfe der Maschine tat jetzt ein Kind von acht Jahren mehr als früher zwanzig erwachsene Männer; sechshunderttausend Fabrikarbeiter, von denen die Hälfte Kinder und mehr als die Hälfte weiblichen Geschlechts, tun die Arbeit von hundertfünfzig Millionen Menschen.
|563| Dies ist aber nur der Anfang der industriellen Umwälzung. Wir haben gesehn, wie Färben, Drucken und Bleichen durch den Fortschritt des Spinnens und Webens ausgedehnt wurden und infolgedessen sich bei der Mechanik und Chemie Hülfe holten. Seit der Anwendung der Dampfmaschine und der metallnen Zylinder beim Drucken tut ein Mann die Arbeit von zweihundert; durch die Benutzung des Chlors statt des Sauerstoffs beim Bleichen ist die Zeit der Operation von ein paar Monaten auf ein paar Stunden reduziert. Dehnte sich so der Einfluß der industriellen Revolution auf die Prozesse aus, die nach dem Spinnen und Weben mit dem Produkt vorgenommen werden, so war die Rückwirkung auf das Material der neuen Industrie noch viel bedeutender. Die Dampfmaschine gab den unerschöpflichen Kohlenlagern, die sich unter der Oberfläche Englands hinziehen, erst ihren Wert; neue Kohlenbergwerke wurden in Masse eröffnet und die alten mit doppelter Energie bearbeitet. Die Anfertigung der Spinnmaschinen und Webstühle |Im »Vorwärts!« : Werkstühle| fing auch an, einen eignen Industriezweig zu bilden und wurde zu einer von keiner andern Nation erreichten Vollkommenheit gesteigert. Die Maschinen wurden durch Maschinen gemacht, und durch eine bis ins einzelnste gehende Teilung der Arbeit wurde die Präzision und Genauigkeit erreicht, die den Vorzug der englischen Maschinen ausmacht. Die Maschinenfabrikation wirkte wieder auf die Eisen- und Kupfergewinnung zurück, die indes ihren Hauptanstoß von einer andern Seite her, aber immer noch durch den anfänglichen, von Watt und Arkwright bewirkten Umschwung erhielt.
Die Folgen des einmal gegebenen industriellen Anstoßes sind endlos. Die Bewegung eines Industriezweiges teilt sich allen andern mit. Die neugeschaffnen Kräfte verlangen Nahrung, wie wir eben gesehen haben; die neugeschaffne arbeitende Bevölkerung bringt neue Lebensverhältnisse und neue Bedürfnisse mit. Die mechanischen Vorteile der Fabrikation verringern den Preis des Fabrikats, machen also die Lebensbedürfnisse und infolgedessen den Arbeitslohn überhaupt wohlfeiler; alle andern Produkte können wohlfeiler verkauft werden und erlangen dadurch einen im Verhältnisse ihrer Wohlfeilheit ausgedehnteren Markt. Das Beispiel der vorteilhaft angewendeten mechanischen Hülfsmittel einmal gegeben, wird allmählich in allen Industriezweigen nachgeahmt, die Steigerung der Zivilisation, die die unfehlbare Folge aller industriellen Verbesserungen ist, schafft neue Bedürfnisse, neue Fabrikationszweige und dadurch wieder neue Verbesserungen. Die Folge der revolutionierten Baumwollspinnerei mußte eine Revolution |564| der gesamten Industrie sein; und wenn wir die Mitteilung der bewegenden Kraft an die entfernteren Zweige des industriellen Systems nicht immer verfolgen können, so ist daran nur der Mangel der statistischen und historischen Data schuld. Wir werden aber überall sehen, daß die Einführung mechanischer Hülfsmittel und überhaupt wissenschaftlicher Prinzipien die Triebfeder des Fortschritts war.
Die Metallverarbeitung ist nach dem Spinnen und Weben der Hauptindustriezweig Englands. Warwickshire (Birmingham) und Staffordshire (Wolverhampton) sind die Hauptsitze desselben. Die Dampfkraft wurde sehr bald zu Hülfe genommen, und hierdurch, sowie durch Teilung der Arbeit, die Produktionskosten der Metallwaren um drei Viertel reduziert. Dafür vervierfachte sich die Ausfuhr von 1800 bis 1835. In ersterem Jahre wurden 86.000 Zentner Eisen- und ebensoviel Kupferwaren exportiert, in letzterm 320.000 Zentner Eisen- und 210.000 Zentner Kupfer- und Messingwaren. Die Ausfuhr von Stangen- und Gußeisen wurde auch erst jetzt bedeutend; 1800 wurden 4.600 Tons Stangeneisen, 1835 14.000 Tons Stangen- und 14.000 Tons Gußeisen ausgeführt.
Die englischen Messerwaren werden alle in Sheffield gemacht. Die Benutzung der Dampfkraft, namentlich zum Schleifen und Polieren der Klingen, die Verwandlung von Eisen in Stahl, die erst jetzt wichtig wurde, und die neuerfundene Methode, Stahl zu gießen, bewirkten auch hier eine vollständige Revolution. Sheffield allein verbraucht jährlich 500.000 Tons Kohlen und 12.000 Tons Eisen, von denen 10.000 Tons ausländisches (besonders schwedisches).
Der Verbrauch gußeiserner Waren datiert auch seit der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts und ist erst in den letzten Jahren zu der Bedeutung gestiegen, die er jetzt hat. Die Gasbeleuchtung (seit 1804 praktisch eingeführt) schuf einen ungeheuern Bedarf für gußeiserne Röhren; die Eisenbahnen, Kettenbrücken usw., die Maschinerie usw. steigerten diesen Bedarf noch mehr. 1780 wurde das Puddeln, d.h. die Verwandlung des Gußeisens in schmiedbares Eisen durch Hitze und Entziehung des Kohlenstoffs erfunden, und dies gab den englischen Eisenbergwerken neue Bedeutung. Wegen Mangels an Holzkohlen hatten die Engländer bis dahin alles Schmiedeeisen von außen beziehen müssen. Seit 1790 wurden Nägel, seit 1810 Schrauben durch Maschinen gemacht; 1760 erfand Huntsman in Sheffield das Stahlgießen; Draht wurde durch Maschinerie gezogen, und überhaupt in die ganze Eisen- und Messingindustrie eine Masse neuer Maschinen eingeführt, die Handarbeit verdrängt, und, soviel die Natur der Sache es zuließ, das Fabriksystem durchgesetzt.
|565| Die Ausdehnung der Bergwerke war nur die notwendige Folge hiervon. Bis 1788 war alles Eisenerz mit Holzkohle geschmolzen worden und die Eisengewinnung daher durch die geringe Quantität des Brennmaterials beschränkt. Seit 1788 fing man an, Koks (geschwefelte Kohlen) statt der Holzkohlen anzuwenden und versechsfachte dadurch in sechs Jahren das Quantum der jährlichen Gewinnung. 1740 wurden jährlich 17.000 Tons, 1835 wurden 553.000 Tons gewonnen. Die Ausbeute der Zinn- und Kupferminen verdreifachte sich seit 1770. Aber neben den Eisenminen sind die Kohlengruben die wichtigsten Bergwerke Englands. Die Ausdehnung der Kohlengewinnung seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts ist gar nicht zu berechnen. Die Masse der Kohlen, die jetzt von den zahllosen in Fabriken und Bergwerken tätigen Dampfmaschinen, von den Schmiedeessen, von den Schmelzöfen und Gießereien und von der Privatheizung einer verdoppelten Bevölkerung verbraucht wird, steht mit dem vor hundert oder achtzig Jahren verbrauchten Quantum in gar keinem Verhältnis. Die Schmelzung des Roheisens allein verzehrt jährlich über drei Millionen Tons (zu zwanzig Zentner die Tons).
Die Schöpfung der Industrie hatte zur nächsten Folge die Verbesserung der Kommunikationsmittel. Die Straßen waren im vorigen Jahrhundert in England ebenso schlecht wie anderswo und blieben es auch, bis der berühmte MacAdam den Straßenbau auf wissenschaftliche Prinzipien reduzierte und dadurch dem Fortschritt der Zivilisation einen neuen Anstoß gab. Von 1818 bis 1829 wurden in England und Wales neue Chausseen von einer Gesamtlänge von 1.000 englischen Meilen, ungerechnet die kleineren Feldwege, angelegt und fast alle alten nach MacAdams Prinzipien erneuert. In Schottland legte die Behörde der öffentlichen Arbeiten seit 1803 über 1.000 Brücken an; in Irland wurden die weiten Moorwüsten des Südens, in denen ein halbwildes Räubergeschlecht wohnte, von Straßen durchschnitten. Hierdurch wurden alle Winkel des Landes, die bisher außer aller Verbindung mit der Welt gestanden hatten, zugänglich gemacht; namentlich die keltisch-redenden Bezirke Wales, die schottischen Hochlande und der Süden von Irland wurden dadurch gezwungen, sich mit der Außenwelt bekannt zu machen und die ihnen aufgedrängte Zivilisation anzunehmen.
1755 wurde der erste erwähnenswerte Kanal in Lancashire angelegt; 1759 fing der Herzog von Bridgewater seinen Kanal von Worsley nach Manchester an. Seitdem sind Kanäle von einer Gesamtlänge von 2 200 Meilen erbaut worden; außer ihnen besitzt England noch 1.800 Meilen schiffbarer Flüsse, deren größter Teil auch erst in der letzten Zeit nutzbar gemacht worden ist.
|566| Seit 1807 wurde die Dampfkraft zur Forttreibung von Schiffen angewandt, und seit dem ersten britischen Dampfschiff (1811) wurden 600 andre erbaut. 1835 waren an 550 Dampfschiffe in britischen Häfen in Tätigkeit.
Die erste öffentliche Eisenbahn wurde 1801 in Surrey gebaut; aber erst mit der Eröffnung der Liverpool-Manchester Eisenbahn (1830) wurde das neue Kommunikationsmittel bedeutend. Sechs Jahre später waren 680 englische Meilen Eisenbahnen eröffnet und vier große Linien, von London nach Birmingham, Bristol und Southampton, und von Birmingham nach Manchester und Liverpool, in Arbeit. Seitdem wurde das Netz über ganz England ausgedehnt; London ist der Knotenpunkt für neun, Manchester für fünf Eisenbahnen. |Die obigen statistischen Details sind größtenteils dem Progress of the Nation von G. Porter, einem Beamten der Board of Trade unter dem Whigministerium, also offiziellen Quellen entlehnt. Anm. F. E.|
Diese Revolutionierung der englischen Industrie ist die Basis aller modernen englischen Verhältnisse, die treibende Kraft der ganzen sozialen Bewegung. Ihre erste Folge war die schon oben angedeutete Erhebung des Interesses zur Herrschaft über den Menschen. Das Interesse bemächtigte sich der neugeschaffnen industriellen Kräfte und beutete sie zu seinen Zwecken aus; diese von Rechts wegen der Menschheit gehörenden Kräfte wurden durch die Einwirkung des Privateigentums das Monopol weniger reicher Kapitalisten und das Mittel zur Knechtung der Masse. Der Handel nahm die Industrie in sich auf und wurde dadurch allmächtig, wurde das Band der Menschheit; aller persönliche und nationale Verkehr löste sich in Handelsverkehr auf, und, was dasselbe ist, das Eigentum, die Sache, wurde zum Herrn der Welt erhoben.
[»Vorwärts!« Nr. 73 vom 11 September 1844]
Die Herrschaft des Eigentums mußte sich notwendig zuerst gegen den Staat wenden und diesen auflösen oder wenigstens, da es ihn nicht entbehren kann, aushöhlen. Adam Smith begann diese Aushöhlung gleichzeitig mit der industriellen Revolution, indem er 1776 seine »Untersuchung über das Wesen und die Ursachen des Nationalreichtums« herausgab und dadurch die Finanzwissenschaft schuf. Alle bisherige Finanzwissenschaft war exklusiv national gewesen; die Staatswirtschaft war als ein bloßer Zweig des ganzen Staatswesens angesehen, dem Staat als solchen untergeordnet worden; Adam Smith machte den Kosmopolitismus den nationalen Zwecken untertan und erhob die Staatswirtschaft zum Wesen und Zweck des Staats. Er reduzierte |567| die Politik, die Parteien, die Religion, alles auf ökonomische Kategorien und erkannte dadurch das Eigentum als das Wesen, die Bereicherung als den Zweck des Staats an. Auf der andern Seite stützte William Godwin (»Politcal Justice«, 1793) das republikanische System der Politik, stellte zu gleicher Zeit mit J. Bentham das Utilitätsprinzip auf, wodurch das republikanische Salus publica suprema lex |Das öffentliche Wohl ist das oberste Gesetz| zu seinen legitimen Konsequenzen gebracht wurde, und griff das Wesen des Staats selbst durch seinen Satz, daß der Staat ein Übel ist, an. Godwin faßt das Utilitätsprinzip noch ganz allgemein als die Pflicht des Bürgers, mit Vernachlässigung des individuellen Interesses nur dem allgemeinen Besten zu leben; Bentham dagegen führt die wesentlich soziale Natur dieses Prinzips weiter aus, indem er, in Übereinstimmung mit der gleichzeitigen Nationalrichtung, das Einzelinteresse zur Basis des allgemeinen machte, die Identität beider in dem besonders von seinem Schüler Mill entwickelten Satze: daß Menschenliebe nichts anders ist als aufgeklärter Egoismus, anerkennt und dem »Allgemeinen Besten« die größte Glückseligkeit der größten Zahl substituiert. Bentham begeht hier in seiner Empirie denselben Fehler, den Hegel in der Theorie begangen hat; er macht nicht Ernst mit der Überwindung der Gegensätze, er macht das Subjekt zum Prädikat, das Ganze dem Teil untertan und stellt dadurch alles auf den Kopf. Erst spricht er von der Untrennbarkeit des allgemeinen und einzelnen Interesses, und nachher bleibt er einseitig beim krassen Einzelinteresse stehen; sein Satz ist nur der empirische Ausdruck des andern, daß der Mensch die Menschheit ist, aber weil er empirisch ausgedrückt ist, gibt er nicht dem freien, selbstbewußten und selbstschaffenden, sondern dem rohen, blinden, in den Gegensätzen befangenen Menschen die Rechte der Gattung. Er macht die freie Konkurrenz zum Wesen der Sittlichkeit, reguliert die Beziehungen der Menschheit nach den Gesetzen des Eigentums, der Sache, nach Naturgesetzen, und ist so die Vollendung des alten, christlichen, naturwüchsigen Weltzustandes, die höchste Spitze der Veräußerung, aber nicht der Anfang des neuen, durch den selbstbewußten Menschen mit voller Freiheit zu schaffenden Zustandes. Er geht nicht über den Staat hinaus, aber er nimmt ihm allen Gehalt, ersetzt die politischen Prinzipien durch soziale, macht die politische Organisation zur Form des sozialen Inhalts und bringt dadurch den Widerspruch auf die höchste Spitze.
Zu gleicher Zeit mit der industriellen Revolution entstand die demokratische Partei. 1769 stiftete J. Horne Tooke die Society of the Bill of Rights, in der zuerst wieder seit der Republik demokratische Prinzipien diskutiert |568| wurden. Wie in Frankreich waren die Demokraten lauter philosophisch gebildete Männer, aber sie fanden bald, daß die höheren und Mittelklassen ihnen entgegenstanden und nur die arbeitende Klasse ihren Grundsätzen ein offnes Ohr lieh. Unter dieser fanden sie bald eine Partei, und diese Partei war 1794 schon ziemlich stark, aber immer noch nicht stark genug, um anders als stoßweise wirken zu können. Von 1797 bis 1816 war von ihr keine Rede; in den bewegten Jahren von 1816 bis 1823 war sie wieder sehr tätig, sank aber dann bis zur Julirevolution wieder in Untätigkeit zurück. Von da an hat sie ihre Bedeutung neben den alten Parteien behalten und ist in einem regelmäßigen Fortschritt begriffen, wie wir dies später sehen werden.
Das wichtigste Resultat des achtzehnten Jahrhunderts war für England die Schöpfung des Proletariats durch die industrielle Revolution. Die neue Industrie erforderte eine stets fertige Masse von Arbeitern für die zahllosen neuen Zweige der Arbeit, und zwar Arbeiter, wie sie bisher nicht dagewesen waren. Bis 1780 hatte England wenig Proletarier, wie dies notwendig aus der oben dargestellten sozialen Lage der Nation hervorgeht. Die Industrie konzentrierte die Arbeit auf Fabriken und Städte; die Vereinigung der gewerblichen und ackerbauenden Tätigkeit wurde unmöglich gemacht und die neue Arbeiterklasse rein auf ihre Arbeit angewiesen. Die bisherige Ausnahme wurde Regel und breitete sich allmählich auch außerhalb der Städte aus. Die Parzellenkultur des Landes wurde durch die großen Pächter verdrängt und dadurch eine neue Klasse von Ackerbautaglöhnern geschaffen. Die Städte verdreifachten und vervierfachten ihre Bevölkerung, und fast all dieser Zuwuchs bestand aus bloßen Arbeitern. Die Ausdehnung des Bergbaues erforderte ebenfalls eine große Zahl neuer Arbeiter, und auch diese lebten bloß von ihrem Taglohn.
Auf der andern Seite erhob sich die Mittelklasse zur entschiedenen Aristokratie. Die Fabrikanten vervielfachten in der industriellen Bewegung ihr Kapital auf eine wunderbar schnelle Weise; die Kaufleute bekamen ebenfalls ihr Teil, und das durch diese Revolution geschaffene Kapital war das Mittel, mit dem die englische Aristokratie die französische Revolution bekämpfte.
Das Resultat der ganzen Bewegung war das, daß England jetzt in drei Parteien gespalten ist, in die Landaristokratie, die Geldaristokratie und die arbeitende Demokratie. Diese sind die einzigen Parteien in England, die einzigen Triebfedern, die hier wirken, und wie sie wirken, werden wir vielleicht in einem spätem Artikel darzustellen versuchen.
II. Die englische Konstitution
[»Vorwärts!« Nr. 75 vom 18. September 1844]
|569| Im vorigen Artikel sind die Prinzipien entwickelt worden, nach denen die gegenwärtige Stellung des britischen Reichs in der Geschichte der Zivilisation zu beurteilen ist, sowie die nötigen Data über die Entwicklung der englischen Nation gegeben worden, soweit sie zu diesem Zwecke unumgänglich, aber auf dem Kontinent weniger bekannt sind; wir können somit, nach Begründung unsrer Voraussetzungen, ohne weiteres auf unsern Gegenstand selbst losgehen.
Die Lage Englands hat bisher allen übrigen Völkern Europas beneidenswert geschienen und ist es auch für jeden, der auf der Oberfläche sich herumtreibt und bloß mit dem Auge des Politikers sieht. England ist ein Weltreich in dem Sinne, wie ein solches heutzutage bestehen kann, und wie im Grunde alle andern Weltreiche auch gewesen sind; denn auch Alexanders und Cäsars Reich war wie das englische eine Herrschaft zivilisierter Völker über Barbaren und Kolonien. Kein andres Land der Welt kann sich an Macht und Reichtum mit England messen, und diese Macht und dieser Reichtum liegen nicht wie in Rom in der Hand eines einzelnen Despoten, sondern gehören dem gebildeten Teil der Nation. Die Furcht vor dem Despotismus, der Kampf gegen die Macht der Krone, existieren in England seit hundert Jahren nicht mehr; England ist unleugbar das freiste, d.h. am wenigsten unfreie Land der Welt, Nordamerika nicht ausgenommen, und infolgedessen hat der gebildete Engländer einen Grad angeborner Unabhängigkeit an sich, dessen kein Franzose, geschweige denn ein Deutscher, sich rühmen kann. Die politische Tätigkeit, die freie Presse, die Seeherrschaft und die riesenhafte Industrie Englands haben die dem Nationalcharakter inwohnende Energie, die entschlossenste Tatkraft neben der ruhigsten Überlegung, so vollständig fast in jedem Individuum entwickelt, daß auch hierin die kontinentalen Völker unendlich weit hinter den Engländern zurückstehen |570|*. Die Geschichte der englischen Armee und Flotte ist eine Reihe glänzender Siege, während England seit achthundert Jahren kaum einen Feind an seinen Küsten gesehen hat; der Literatur kann nur von der altgriechischen und deutschen der Rang streitig gemacht werden, in der Philosophie hat England wenigstens zwei - Bacon und Locke -, in den empirischen Wissenschaften unzählbare große Namen aufzuweisen, und wenn es sich darum handelt, welches Volk am meisten getan hat, so darf kein Mensch leugnen, daß die Engländer dies Volk sind.
Das sind die Dinge, deren England sich rühmen kann, die es vor den Deutschen und Franzosen voraus hat, und die ich hier von vornherein aufgezählt habe, damit die guten Deutschen gleich anfangs von meiner »Unparteilichkeit« sich überzeugen können; denn ich weiß sehr wohl, daß man in Deutschland viel eher von den Deutschen als von irgendeiner andern Nation rücksichtslos sprechen darf. Und diese eben aufgezählten Dinge bilden mehr oder weniger das Thema der ganzen bändereichen und doch höchst unfruchtbaren und überflüssigen Literatur, die auf dem Kontinent über England zusammengeschrieben worden ist. In das Wesen der englischen Geschichte und des englischen Nationalcharakters einzugehen, ist niemand eingefallen, und wie jämmerlich die ganze Literatur über England ist, geht schon aus dem einfachen Faktum hervor, daß das jämmerliche Buch des Herrn von Raumer, soviel ich weiß, in Deutschland noch für das beste über den Gegenstand gilt.
Fangen wir, da man bisher England nur von der politischen Seite betrachtet hat, mit dieser an. Prüfen wir die englische Konstitution, die, nach dem Ausdruck des Tory, »das vollkommenste Produkt der englischen Vernunft« ist, und verfahren wir, um dem Politiker noch einen Gefallen zu tun, vorderhand ganz empirisch.
Das juste-milieu findet die englische Verfassung besonders darin schön, daß sie sich »historisch« entwickelt hat; d.h. auf deutsch, daß man die alte, durch die Revolution von 1688 geschaffene Grundlage beibehalten und auf diesem Fundament, wie sie's nennen, weiter gebaut hat. Wir werden schon sehen, welchen Charakter die englische Verfassung dadurch bekommen hat; vorläufig genügt die einfache Vergleichung des Engländers von 1688 mit dem Engländer von 1844, um zu beweisen, daß ein gleiches, konstitutionelles Fundament für beide ein Unding, eine Unmöglichkeit ist. Selbst von dem allgemeinen Fortschritt der Zivilisation abgesehen, so ist schon der politische Charakter der Nation ein ganz andrer als damals. Die Testakte, die Habeas-Corpus-Akte, die Bill of Rights waren Whigmaßregeln, die aus der Schwäche und Überwindung der damaligen Tories hervorgingen und gegen diese Tories, d.h. gegen die absolute Monarchie und den offnen oder |571| verborgenen Katholizismus gerichtet waren. Aber schon in den nächsten fünfzig Jahren verschwanden die alten Tories, und ihre Nachkommen nahmen die Prinzipien an, die bisher das Eigentum der Whigs gewesen waren; seit der Thronbesteigung Georgs I. gingen die monarchisch-katholischen Tories in eine aristokratisch-hochkirchliche Partei über, und seit der französischen Revolution, die sie erst zum Bewußtsein brachte, verflüchtigten sich die positiven Satzungen des Toryismus immer mehr zu der Abstraktion des »Konservatismus«, der nackten, gedankenlosen Verteidigung des Bestehenden - ja selbst diese Stufe ist schon überschritten, in Sir Robert Peel hat sich der Toryismus zur Anerkennung der Bewegung entschlossen, hat die Unhaltbarkeit der englischen Konstitution eingesehen und kapituliert nur noch, um das verrottete Machwerk solange zu halten wie möglich. - Die Whigs haben eine ebenso wichtige Entwicklung durchgemacht, eine neue, demokratische Partei ist entstanden, und doch soll das Fundament von 1688 noch breit genug sein für 1844! Die notwendige Folge dieser »historischen Entwicklung« ist nun, daß die innern Widersprüche, die das Wesen der konstitutionellen Monarchie ausmachen, und die schon zu der Zeit, als die neuere deutsche Philosophie noch den republikanischen Standpunkt einnahm, hinreichend aufgedeckt worden sind - daß diese Widersprüche in der modernen englischen Monarchie ihre Spitze erreichen. In der Tat, die englische konstitutionelle Monarchie ist die Vollendung der konstitutionellen Monarchie überhaupt, ist der einzige Staat, in dem, soweit dies jetzt noch möglich, eine wirkliche Adelsaristokratie ihren Platz neben einem verhältnismäßig sehr entwickelten Volksbewußtsein ihre Stelle behauptet hat, und in dem daher die auf dem Kontinent künstlich wiederhergestellte und mühsam aufrechterhaltene Dreieinigkeit der gesetzgebenden Gewalt wirklich existiert.
Wenn das Wesen des Staats, wie der Religion, die Angst der Menschheit vor sich selber ist, so erreicht diese Angst in der konstitutionellen und namentlich der englischen Monarchie ihren höchsten Grad. Die Erfahrung dreier Jahrtausende hat die Menschen nicht klüger, sondern im Gegenteil verwirrter, befangener, hat sie wahnsinnig gemacht, und das Resultat dieses Wahnsinnes ist der politische Zustand des heutigen Europas. Die reine Monarchie erregt Schrecken - man denkt an den orientalischen und römischen Despotismus. Die reine Aristokratie ist nicht weniger furchtbar - die römischen Patrizier und der mittelalterliche Feudalismus, die venezianischen und genuesischen Nobili sind nicht umsonst dagewesen. Die Demokratie ist fürchterlicher als beide; Marius und Sulla, Cromwell und Robespierre, die blutigen Häupter zweier Könige, die Proskriptionslisten und die Diktatur reden laut genug von den »Greueln« der Demokratie. Zudem ist es weltbekannt |572|*, daß keine dieser Formen sich je hat lange halten können. Was also war zu tun? Statt geradeaus vorwärtszugehen, statt von der Unvollkommenheit oder vielmehr Unmenschlichkeit aller Staatsformen den Schluß zu ziehen, daß der Staat selbst die Ursache aller dieser Unmenschlichkeiten und selbst unmenschlich sei, statt dessen beruhigte man sich bei der Ansicht, daß die Unsittlichkeit nur den Staatsformen anklebe, folgerte aus den obigen Prämissen, daß drei unsittliche Faktoren zusammen ein sittliches Produkt machen können, und schuf die konstitutionelle Monarchie.
Der erste Satz der konstitutionellen Monarchie ist der vom Gleichgewicht der Gewalten, und dieser Satz ist der vollkommenste Ausdruck für die Angst der Menschheit vor sich selbst. Ich will von der lächerlichen Unvernünftigkeit, von der totalen Unausführbarkeit dieses Satzes gar nicht reden, ich will nur untersuchen, ob er in der englischen Konstitution durchgeführt ist, ich werde mich, wie ich versprach, rein empirisch halten, so empirisch, daß ich es vielleicht selbst unsern politischen Empirikern zu sehr sein werde. Ich nehme also die englische Verfassung nicht, wie sie in Blackstones »Commentaren«, in de Lolmes Hirngespinsten oder in der langen Reihe konstituierender Statuten von »Magna Charta« bis auf die Reformbill, sondern wie sie in der Wirklichkeit besteht.
Zuerst das monarchische Element. Jedermann weiß, was es mit dem souveränen König von England, männlichen oder weiblichen Geschlechts, auf sich hat. Die Macht der Krone reduziert sich in der Praxis auf Null, und wenn ein in aller Welt notorisches Faktum noch des Beweises bedürfte, so wäre die Tatsache, daß seit mehr als hundert Jahren aller Kampf gegen die Krone aufgehört hat, daß selbst die radikal-demokratischen Chartisten ihre Zeit zu etwas Besserem als zu diesem Kampf anzuwenden wissen, Beweis genug. Wo also bleibt das in der Theorie der Krone zugewiesene Drittel der gesetzgebenden Gewalt? Dennoch - und hierin erreicht die Angst ihren Gipfel - dennoch kann die englische Konstitution nicht ohne die Monarchie bestehen. Nehmt die Krone, die »subjektive Spitze«, weg, und das ganze künstliche Gebäude fällt über den Haufen. Die englische Verfassung ist eine umgekehrte Pyramide; die Spitze ist zugleich die Basis. Und je unbedeutender das monarchische Element in der Wirklichkeit wurde, desto bedeutender wurde es dem Engländer. Nirgends ist bekanntlich die nichtregierende Persönlichkeit angebeteter als in England. Die englischen Journale übertreffen an sklavischem Servilismus die deutschen bei weitem. Dieser ekelhafte Kultus des Königs als solchen, die Anbetung der ganz entleerten, alles Inhalts beraubten Vorstellung - nicht Vorstellung, des Wortes: »König« ist aber die Vollendung der Monarchie, wie die Anbetung des bloßen Wortes »Gott« |573| die Vollendung der Religion ist. Das Wort König ist das Wesen des Staats, wie das Wort Gott das Wesen der Religion ist, wenn auch beide Worte rein gar nichts bedeuten. Bei beiden ist die Hauptsache, daß die Hauptsache, nämlich der Mensch, der hinter diesen Worten steckt, ja nicht zur Sprache komme.
Sodann das aristokratische Element. Diesem geht es, wenigstens in der ihm von der Verfassung angewiesenen Sphäre, wenig besser als der Krone. Wenn der Spott, mit dem das Oberhaus seit mehr als hundert Jahren fortwährend überhäuft wurde, allmählich so sehr ein Bestandteil der öffentlichen Meinung geworden ist, daß dieser Zweig der gesetzgebenden Gewalt allgemein für ein Invalidenhaus für ausgediente Staatsmänner, daß das Anerbieten einer Paine von jedem noch nicht ganz verschlissenen Mitgliede des Unterhauses für eine Beleidigung angesehen wird, so läßt sich leicht denken, in welcher Achtung die zweite der durch die Konstitution eingesetzten Staatsmächte steht. In der Tat ist die Tätigkeit der Lords im Oberhause zu einer bloßen, nichtssagenden Förmlichkeit herabgesunken und erhebt sich nur selten zu einer Art von Energie der Trägheit, wie sie sich während der Whigherrschaft von 1830 bis 1840 zeigte - aber selbst dann sind die Lords nicht stark durch sich selbst, sondern durch die Partei, deren reinste Vertreter sie sind, die Tories; und das Oberhaus, dessen Hauptvorzug in der Theorie der Konstitution der sein soll, daß es von der Krone und dem Volk gleich unabhängig sei, ist in der Wirklichkeit von einer Partei, also von dem Stande der Volksmeinung, und durch das Recht der Krone, Pairs zu ernennen, auch von dieser abhängig. Aber je ohnmächtiger das Oberhaus ist, desto festeren Boden erhielt es in der öffentlichen Meinung. Die konstitutionellen Parteien, Tories, Whigs und Radikale, schaudern gleich sehr vor der Abschaffung dieser leeren Förmlichkeit zurück, und die Radikalen bemerken höchstens, daß die Lords, als die einzige unverantwortliche Macht der Konstitution, eine Anomalie seien und deshalb die erbliche durch eine Wahlpairie zu ersetzen sei. Es ist wieder die Angst vor der Menschheit, die diese leere Form aufrechterhält, und die Radikalen, die für das Unterhaus eine reine demokratische Basis verlangen, treiben diese Angst noch weiter als die übrigen beiden Parteien, indem sie, um das abgenutzte, überlebte Oberhaus ja nur nicht fallenzulassen, ihm durch Infusion populären Bluts noch etwas Lebenskraft einzuhauchen suchen. Die Chartisten wissen besser, was sie zu tun haben; sie wissen, daß vor dem Sturm eines demokratischen Unterhauses das ganze morsche Gerüst, Krone und Lords und so weiter, von selbst zusammenbrechen muß und plagen sich daher nicht, wie die Radikalen, mit der Reform der Pairie. - Und wie die Anbetung der Krone in demselben Verhältnis gestiegen ist, wie die Macht der Krone abnahm, so ist |574| auch die populäre Achtung vor der Aristokratie um so höher geworden, je unbedeutender der politische Einfluß des Oberhauses wurde. Nicht nur, daß die erniedrigendsten Förmlichkeiten der Feudalzeit beibehalten wurden, daß die Mitglieder des Unterhauses, wenn sie in offizieller Kapazität vor den Lords erscheinen, mit dem Hut in der Hand vor den sitzenden und bedeckten Lords stehen müssen, daß die offizielle Anrede an einen Adligen lautet: »Möge es Eurer Lordschaft gefallen« (May it please your lordship) usw.; das schlimmste ist, daß alle diese Förmlichkeiten wirklich der Ausdruck der öffentlichen Meinung sind, die einen Lord für ein Wesen höherer Art ansieht und einen Respekt vor Stammbäumen, volltönenden Titeln, alten Familienandenken usw. hegt, der uns Kontinentalen ebenso widerwärtig und ekelerregend ist wie der Kultus der Krone. Auch in diesem Zuge des englischen Charakters haben wir wieder die Anbetung eines leeren, nichtssagenden Wortes, die vollkommen wahnsinnige, fixe Idee, als ob eine große Nation, als ob die Menschheit und das Universum nicht ohne das Wort Aristokratie bestehen könnte. - Bei alledem hat die Aristokratie in der Wirklichkeit dennoch einen bedeutenden Einfluß; aber wie die Macht der Krone die Macht der Minister, d.h. der Repräsentanten der Majorität des Unterhauses ist, also eine ganz andre Richtung angenommen hat, als die Konstitution beabsichtigte, so besteht die Macht der Aristokratie in etwas ganz anderem als in ihrem Anrecht auf einen erblichen Sitz in der Legislatur. Die Aristokratie ist stark durch ihren ungeheuren Grundbesitz, durch ihren Reichtum überhaupt, und teilt diese Stärke daher mit allen andern, nichtadligen Reichen; die Macht der Lords wird nicht im Oberhause, sondern im Hause der Gemeinen |Im »Vorwärts!« : Gemeinden| entwickelt, und dies führt uns zu dem Bestandteil der Legislatur, der nach der Konstitution das demokratische Element vertreten soll.
[»Vorwärts!« Nr. 76 vom 21. September 1844]
Wenn die Krone und das Oberhaus machtlos sind, so muß das Unterhaus notwendig alle Gewalt in sich vereinigen, und das ist der Fall. In der Wirklichkeit macht das Unterhaus die Gesetze und verwaltet sie durch die Minister, die nur ein Ausschuß desselben sind. Bei dieser Allmacht des Unterhauses müßte England also eine reine Demokratie sein, wenn auch nominell die beiden andren Zweige der Legislatur bestehen blieben, wenn nur das demokratische Element selbst wirklich demokratisch wäre. Aber davon ist keine Rede. Die Gemeinden blieben bei der Festsetzung der Verfassung nach der Revolution von 1688 in ihrer Zusammensetzung ganz unberührt; die Städte, |575| Flecken und Wahlbezirke, die das Recht zur Absendung eines Deputierten früher gehabt hatten, behielten es bei; und dies Recht war durchaus kein demokratisches, »allgemeines Menschenrecht«, sondern ein ganz feudalistisches Privilegium, das noch unter Elisabeth ganz willkürlich und aus freier Gnade von der Krone vielen bisher nicht vertretenen Städten verliehen wurde. Selbst den Charakter der Repräsentation, den die Unterhauswahlen wenigstens ursprünglich hatten, verloren sie bald durch die »historische Entwicklung«. Die Zusammensetzung des alten Unterhauses ist bekannt. In den Städten war die Erneuerung des Deputierten entweder in der Hand eines einzelnen oder einer geschlossenen und sich selbst ergänzenden Korporation; nur wenige Städte waren offen, d.h. hatten eine ziemlich große Zahl Wähler, und in diesen verdrängte die unverschämteste Bestechung den letzten Rest wirklicher Repräsentation. Die geschlossenen Städte waren meist unter dem Einfluß eines Individuums, gewöhnlich eines Lords; und in den ländlichen Wahlbezirken unterdrückte die Allmacht der großen Grundbesitzer jede etwaige freiere und selbsttätige Regung unter dem übrigens politisch leblosen Volk. Das alte Unterhaus war weiter nichts als eine geschlossene, vom Volk unabhängige, mittelalterliche Korporation, die Vollendung des »historischen« Rechts, die auch nicht ein einziges wirklich oder scheinbar vernünftiges Argument für ihre Existenz anführen konnte, die trotz der Vernunft existierte und darum auch 1794 durch ihr Komitee leugnete, daß sie eine Versammlung von Repräsentanten und England ein Repräsentativstaat sei. |Second Report of the Committee of Secrecy, to whom the Papers referred to in His Majesty's Message on the 12. May 1794, were delivered. [Zweiter Bericht des geheimen Ausschusses, dem die Dokumente übergeben wurde, die sich auf Seiner Majestät Botschaft vom 12. Mai 1794 bezogen](Bericht über die Londoner revolutionären Gesellschaften, London 1794.) Pag. 68 ff. Anm. F. E.| Einer solchen Verfassung gegenüber mußte die Theorie des Repräsentativstaats, selbst der gewöhnlichen konstitutionellen Monarchie mit einer Repräsentantenkammer, als durchaus revolutionär und verwerflich erscheinen, und daher hatten die Tories ganz recht, wenn sie die Reformbill als eine dem Geist und Buchstaben der Konstitution schnurstracks zuwiderlaufende und die Konstitution untergrabende Maßregel bezeichneten. Die Reformbill ging indes durch, und wir haben nun zu sehen, wozu sie die englische Verfassung und besonders das Unterhaus gemacht hat. Zunächst sind die Verhältnisse für die Wahl von Deputierten auf dem Lande ganz dieselben geblieben. Die Wähler sind hier fast ausschließlich selbst Pächter, und diese sind von ihrem Grundbesitzer durchaus abhängig, indem dieser ihnen, die mit ihm in keinem kontraktlichen Verhältnis stehen, jeden Augenblick die |576| Pacht aufkündigen kann. Die Deputierten der Grafschaften (im Gegensatz zu den Städten) sind nach wie vor Deputierte der Grundbesitzer, denn nur in den aufgeregtesten Epochen, wie 1831, wagen die Pächter gegen die Grundbesitzer zu stimmen. Ja, die Reformbill machte das Übel nur schlimmer, indem sie die Zahl der Deputierten für Grafschaften vermehrte. Von den 252 Grafschaftsdeputierten können die Tories daher immer auf wenigstens 200 rechnen, es sei denn, daß eine allgemeine Aufregung unter den Pächtern herrsche, die das Einschreiten der Grundbesitzer unklug machen wurde. In den Städten wurde wenigstens der Form nach eine Repräsentation eingeführt und jedem, der ein Haus von wenigstens zehn Pfund jährlichen Mietwertes bewohnt und direkte Steuern (Armensteuer etc.) bezahlt, das Stimmrecht erteilt. Hierdurch ist die ungeheure Majorität der arbeitenden Klassen ausgeschlossen; denn erstens wohnen natürlich nur Verheiratete in besondern Häusern, und wenn auch ein bedeutender Teil dieser Häuser jährlich zehn Pfund Miete kostet, so umgehen doch die Einwohner fast alle die Bezahlung der direkten Steuern und sind daher keine Wähler. Die Zahl der Wähler bei chartistischem, allgemeinem Stimmrecht würde sich mindestens verdreifachen. Die Städte sind somit in den Händen der Mittelklasse, und diese wiederum ist in den kleineren Städten sehr häufig - direkt oder indirekt - durch die Pächter, die die Hauptkunden der Krämer und Handwerker sind, von den Grundbesitzern abhängig. In den großen Städten allein kommt die Mittelklasse wirklich zur Herrschaft, und in den kleineren Fabrikstädten, namentlich Lancashires, wo die Mittelklasse an Zahl und das Landvolk an Einfluß unbedeutend ist, wo also schon eine Minorität der Arbeiterklasse ein entscheidendes Gewicht in die Waagschale legt, kommt die Scheinrepräsentation einer wirklichen einigermaßen nahe. Diese Städte, z.B. Ashton, Oldham, Rochdale, Bolton usw. schicken daher auch fast nur Radikale ins Parlament. Eine Ausdehnung des Stimmrechts nach den Grundsätzen der Chartisten würde hier, wie überhaupt in allen Fabrikstädten, diese letztere Partei zur Majorität der Wähler erheben. Außer diesen verschiedenen und in der Praxis sehr komplizierten Einflüssen machen sich aber noch verschiedene Lokalinteressen und zu guter Letzt ein sehr bedeutender Einfluß geltend - der der Bestechung. In dem ersten Artikel der gegenwärtigen Reihe war schon die Rede davon, daß das Unterhaus durch sein Bestechungs-Komitee erklärte, es sei durch Bestechung gewählt, und Thomas Duncombe, das einzige entschieden chartistische Mitglied, hat es dem Unterhaus längst geradeheraus gesagt, daß kein einziger in der ganzen Versammlung, er selbst nicht, sagen könne, daß er durch die freie Wahl seiner Konstituenten, ohne Bestechung, an seinen Platz gekommen sei. Im vergangnen Sommer erklärte Richard |577| Cobden, Mitglied für Stockport und Führer der Antikorngesetz-Ligue, in einem öffentlichen Meeting in Manchester, daß die Bestechung jetzt einen höheren Grad erreicht habe als je, daß in dem toryistischen Carlton-Klub und dem liberalen Reform-Klub in London die Repräsentation von Städten förmlich an den Meistbietenden versteigert werde, und diese Klubs als Unternehmer handelten - gegen soviel Pfunde garantieren wir dir diese Stelle usw. - Und zu alledem kommt noch die saubere Manier, mit der die Wahlen vorgenommen werden, die allgemeine Trunkenheit, in der das Votum abgegeben wird, die Schenken, in denen die Wähler auf Kosten der Kandidaten sich berauschen, die Unordnung, die Schlägereien und das Geheul der Masse an den Abstimmungsbuden, um die Nichtigkeit der für sieben Jahre gültigen Repräsentation zu vollenden.
[»Vorwärts!« Nr. 77 vom 25. September 1844]
Wir haben gesehen, daß die Krone und das Oberhaus ihre Bedeutung verloren haben; wir haben gesehen, auf welche Weise das allmächtige Unterhaus rekrutiert wird; die Frage ist jetzt: Wer regiert denn eigentlich in England? - Der Besitz regiert. Der Besitz befähigt die Aristokratie, die Wahl der ländlichen und kleinstädtischen Deputierten zu beherrschen; der Besitz befähigt die Kaufleute und Fabrikanten, die Deputierten für die großen und teilweise auch die kleinen Städte zu bestimmen; der Besitz befähigt beide, durch Bestechung ihren Einfluß zu steigern. Die Herrschaft des Besitzes ist in der Reformbill durch den Zensus ausdrücklich anerkannt. Und insofern der Besitz und der durch den Besitz erworbene Einfluß das Wesen der Mittelklasse ausmacht, insofern also die Aristokratie bei den Wahlen ihren Besitz geltend macht und damit nicht als Aristokratie auftritt, sondern sich der Mittelklasse gleichstellt, insofern der Einfluß der eigentlichen Mittelklasse im ganzen viel stärker ist als der der Aristokratie, insofern herrscht allerdings die Mittelklasse. Aber wie und warum herrscht sie? Weil das Volk über das Wesen des Besitzes noch nicht im klaren, weil es überhaupt - auf dem Lande wenigstens - noch geistig tot ist und daher sich die Tyrannei des Besitzes gefallen läßt. England ist allerdings eine Demokratie, aber wie Rußland eine Demokratie ist; wie das Volk unbewußt überall herrscht und in allen Staaten die Regierung nur ein anderer Ausdruck für den Bildungsgrad des Volkes ist.
Es wird schwerhalten, uns von dieser Praxis der englischen Konstitution zu ihrer Theorie zurückzubringen. Die Praxis steht mit der Theorie im schreiendsten Widerspruch; die beiden Seiten sind einander so entfremdet, daß sie gar keine Ähnlichkeit mehr haben. Hier eine Dreieinigkeit der Legislatur - dort eine Tyrannei der Mittelklasse; hier ein Zweikammersystem - dort ein |578| allmächtiges Haus der Gemeinen; hier eine königliche Prärogative - dort ein von den Gemeinen gewähltes Ministerium; hier ein unabhängiges Oberhaus mit erblichen Gesetzgebern - dort ein Invalidenhaus für überlebte Deputierte. Jeder der drei Bestandteile der gesetzgebenden Gewalt hat seine Macht an ein anderes Element abgeben müssen. Die Krone an die Minister, d.h. die Majorität des Unterhauses, die Lords an die Torypartei, also an ein populäres Element, und an die Pairs kreierenden Minister, d.h. im Grund auch an ein populäres Element, und die Gemeinen an die Mittelklasse, oder, was dasselbe ist, an die politische Unmündigkeit des Volks. Die englische Konstitution existiert in der Wirklichkeit gar nicht mehr, der ganze langwierige Prozeß der Gesetzgebung ist eine bloße Farce; der Widerspruch von Theorie und Praxis ist so grell geworden, daß er sich unmöglich noch lange halten kann, und wenn auch durch die katholische Emanzipation, von der wir noch weiter zu reden haben werden, durch die Parlaments- und Munizipalreform dem Scheine nach die Lebenskraft der siechen Verfassung noch etwas gehoben wurde, so sind doch diese Maßregeln selbst schon das Geständnis, daß man an der Erhaltung der Konstitution verzweifelt, und bringen Elemente in sie hinein, die mit ihren Grundprinzipien entschieden in Widerspruch stehen, also den Konflikt noch dadurch vergrößern, daß sie die Theorie mit sich selbst in Widerspruch bringen.
Wir haben gesehen, wie die Organisation der Gewalten in der englischen Verfassung durchaus auf der Angst beruht. Diese Angst zeigt sich noch mehr in den Regeln, nach denen die Gesetzgebung verfährt, den sogenannten Standing Orders. Jeder Gesetzvorschlag muß in jedem der beiden Häuser dreimal in gewissen Zwischenräumen gelesen werden; nach dem zweiten Lesen wird er einem Komitee übergeben, das ihn im einzelnen durchgeht; in wichtigeren Fällen »entschließt sich das Haus in ein Komitee des ganzen Hauses« zur Beratung des Vorschlags und ernennt einen Berichterstatter, der nach Beendigung der Beratung mit vieler Feierlichkeit demselben Hause, das beraten hat, einen Bericht über die Beratung abstattet. Beiläufig, ist dies nicht das schönste Beispiel der »Transzendenz innerhalb der Immanenz und Immanenz innerhalb der Transzendenz«, das ein Hegelianer sich nur wünschen kann? »Das Wissen des Unterhauses vom Komitee ist das Wissen des Komitees von sich selbst«, und der Berichterstatter ist die »absolute Persönlichkeit des Mittlers, in der beide identisch sind«. Jeder Gesetzvorschlag wird daher achtmal beraten, ehe er die königliche Sanktion erhalten kann. Diesem ganzen lächerlichen Verfahren liegt natürlich wieder die Angst vor der Menschheit zum Grunde. Man sieht ein, daß der Fortschritt das Wesen der Menschheit ist, aber man hat nicht den Mut, den Fortschritt offen zu proklamieren; |579| man gibt Gesetze, die absolute Geltung haben sollen, die also dem Fortschritt Schranken setzen; und durch das vorbehaltene Recht, die Gesetze zu ändern, läßt man den soeben geleugneten Fortschritt zur Hintertür wieder hinein. Aber nur ja nicht zu rasch, nur ja nicht übereilt. Der Fortschritt ist revolutionär, ist gefährlich und muß daher wenigstens einen starken Hemmschuh erhalten; ehe man sich zu seiner Anerkennung entschließt, muß man sich die Sache achtmal überlegen. Aber diese Angst, die in sich selbst nichtig ist und nur beweist, daß die Ängstlichen selbst noch keine wahren, freien Menschen sind, muß notwendig auch in ihren Maßregeln fehlgreifen. Statt eine umfassendere Beratung der Vorschläge zu sichern, wird die wiederholte Lesung derselben in der Praxis ganz überflüssig und eine bloße Formsache. Die Hauptberatung konzentriert sich gewöhnlich auf die erste oder zweite Lesung, zuweilen auch auf die Debatten im Komitee, je nachdem es der Opposition am besten konveniert. In ihrer ganzen Nichtigkeit erscheint aber diese Vervielfachung der Debatte, wenn man bedenkt, daß das Schicksal jedes Vorschlags schon von vornherein entschieden ist, und wo es nicht entschieden ist, in der Debatte nicht über den speziellen Vorschlag, sondern über die Existenz eines Ministeriums beraten wird. Das Resultat dieser ganzen, achtmal wiederholten Posse ist also nicht etwa eine ruhigere Beratung im Hause selbst, sondern etwas ganz anderes, das gar nicht in der Absicht derer lag, die die Posse einführten. Die Langwierigkeit der Verhandlungen läßt der öffentlichen Meinung Zeit, ein Urteil über die vorgeschlagene Maßregel zu bilden und im Notfalle durch Meetings und Petitionen dagegen zu opponieren, und oft - wie im vorigen Jahre bei Sir James Grahams Erziehungsbill - mit Erfolg. Aber dies, wie gesagt, ist nicht der ursprüngliche Zweck und könnte weit einfacher erreicht werden.
Da wir gerade bei den Standing Orders sind, so können wir noch einige Punkte erwähnen, in denen sich die Angst der englischen Verfassung und der ursprüngliche korporationsmäßige Charakter des Unterhauses verraten. Die Debatten des Unterhauses sind nicht öffentlich; die Zulassung ist ein Privilegium und wird gewöhnlich nur durch einen schriftlichen Befehl eines Mitgliedes erwirkt. Während der Abstimmung werden die Galerien geräumt; trotz dieser lächerlichen Geheimniskrämerei, gegen deren Abschaffung das Haus sich immer heftig gewehrt hat, stehen die Namen der für oder wider stimmenden Mitglieder den andern Tag in allen Zeitungen. Die radikalen Mitglieder haben nie einen authentischen Abdruck der Protokolle durchsetzen können - noch vor vierzehn Tagen fiel eine dahingehende Motion durch - infolgedessen ist der Drucker der in den Zeitungen erscheinenden Parlamentsberichte für den Inhalt derselben allein verantwortlich und kann von jedem, der sich durch einen Ausspruch eines Parlamentsmitgliedes beleidigt fühlt, |580| wegen Veröffentlichung verleumderischer Aussagen - gesetzlich auch von der Regierung - belangt werden, während der Urheber der Verleumdung durch sein parlamentarisches Privilegium gegen alle Verfolgung sichergestellt ist. Diese und eine Menge andrer Punkte in den Standing Orders zeigen den exklusiven, antipopulären Charakter des reformierten Parlaments; und die Zähigkeit, mit der das Unterhaus an diesen Gebräuchen festhält, zeigt deutlich genug, daß es keine Lust hat, sich aus einer privilegierten Korporation in eine Versammlung von Volksrepräsentanten zu verwandeln.
[»Vorwärts!« Nr. 78 vom 28. September 1844]
Ein anderer Beweis hierfür ist das Privilegium des Parlaments, die exzeptionelle Stellung seiner Mitglieder gegenüber den Gerichten und das Recht des Unterhauses, jeden, den es will, verhaften zu lassen. Ursprünglich gegen die Übergriffe einer seitdem aller Macht entkleideten Krone gerichtet, hat dies Privilegium in der neueren Zeit sich nur gegen das Volk gewendet. 1771 erzürnte sich das Haus über die Frechheit der Zeitungen, die die Debatten veröffentlichten, wozu doch nur das Haus selbst berechtigt sei, und versuchte durch Verhaftungen von Druckern und dann von Beamten, die diese Drucker freigelassen hatten, dieser Frechheit ein Ziel zu setzen. Natürlich mißlang dies; aber der Versuch beweist, was es mit dem Privilegium des Parlaments auf sich hat, und das Mißlingen beweist, daß auch das Unterhaus, trotz seiner Erhabenheit über das Volk, dennoch von diesem abhängig ist, daß also auch das Unterhaus nicht regiert.
In einem Lande, wo »das Christentum ein wesentlicher Bestandteil der Landesgesetze ist« (Christianity is part and parcel of the laws of the land), gehört die Staatskirche notwendig zur Verfassung. England ist seiner Verfassung nach wesentlich ein christlicher Staat, und zwar ein vollständig ausgebildeter, starker christlicher Staat; Staat und Kirche sind vollkommen verschmolzen und untrennbar. Diese Einheit von Kirche und Staat kann aber nur in einer christlichen Konfession, zur Ausschließung aller andern, bestehen, und diese ausgeschlossenen Sekten sind dadurch natürlich als Ketzer bezeichnet und der religiösen und politischen Verfolgung verfallen. So in England. Sie wurden also von jeher allesamt in eine Klasse zusammengeworfen, als Nonkonformisten oder Dissenters von aller Teilnahme am Staat ausgeschlossen, in ihrem Kultus gestört und gehindert und mit Strafgesetzen verfolgt. Je eifriger sie sich gegen die Einheit von Kirche und Staat erklärten, desto heftiger wurde diese Einheit von der herrschenden Partei verteidigt und zu einem Lebenspunkt des Staats erhoben. Als der christliche Staat in England noch in voller Blüte stand, war daher auch die Verfolgung der Dissenters |581| und besonders der Katholiken an der Tagesordnung, eine Verfolgung, die zwar weniger heftig, aber universeller, ausdauernder war als die des Mittelalters. Die akute Krankheit ging in eine chronische über, die plötzlichen, blutdürstigen Wutanfälle des Katholizismus verwandelten sich in eine kalte, politische Berechnung, die die Heterodoxie durch einen gelinderen, aber anhaltenden Druck auszurotten suchte. Die Verfolgung wurde auf das weltliche Gebiet herübergezogen und dadurch unerträglicher gemacht. Der Unglaube an die neununddreißig Artikel hörte auf, Blasphemie zu sein, aber anstatt dessen machte man ihn zum Staatsverbrechen.
Aber der Fortschritt der Geschichte ließ sich nicht aufhalten; der Abstand zwischen der Gesetzgebung von 1688 und der öffentlichen Meinung von 1828 war so groß, daß in diesem Jahre selbst das Unterhaus sich genötigt sah, die drückendsten Gesetze gegen die Dissenters aufzuheben. Die Testakte und die religiösen Paragraphen der Korporationsakte wurden abgeschafft; die Emanzipation der Katholiken folgte im nächsten Jahre trotz der wütenden Opposition der Tories. Die Tories, die Vertreter der Konstitution, hatten volles Recht in dieser Opposition, da keine einzige der liberalen Parteien, auch die Radikalen nicht, die Konstitution selbst angriffen. Die Konstitution sollte auch für sie die Grundlage bleiben, und auf dem Boden der Konstitution waren nur die Tories konsequent. Sie sahen ein und sprachen es aus, daß die obigen Maßregeln den Sturz der Hochkirche und notwendig auch den der Konstitution nach sich ziehen müssen; daß, dem Dissenter aktives Bürger recht geben, de facto die Hochkirche vernichten, die Angriffe auf die Hochkirche sanktionieren hieß; daß es eine arge Inkonsequenz gegen den Staat überhaupt ist, wenn man dem Katholiken, der über der Staatsgewalt die Autorität des Papstes anerkennt, Teil an der Verwaltung und Gesetzgebung bewilligt. Ihre Argumente konnten von den Liberalen nicht beantwortet werden; die Emanzipation ging dennoch durch, und die Prophezeiungen der Tories fangen bereits an, sich zu erfüllen.
Die Hochkirche ist also auf diese Weise ein leerer Name geworden und unterscheidet sich von den andern Konfessionen nur noch durch die drei Millionen Pfund, die sie jährlich bezieht, und einige kleine Privilegien, die gerade hinreichend sind, um den Kampf gegen sie aufrechtzuerhalten. Hierhin gehören die kirchlichen Gerichtshöfe, in denen der anglikanische Bischof eine alleinige, aber sehr bedeutungslose Jurisdiktion übt und deren Bedrückung besonders in den Gerichtskosten besteht; ferner die lokale Kirchensteuer, die zur Erhaltung der zur Verfügung der Staatskirche stehenden Gebäude verwendet wird; die Dissenters stehen unter der Jurisdiktion jener Höfe und müssen diese Steuer mitbezahlen.
|582| Aber nicht allein die Gesetzgebung gegen die Kirche, sondern auch die Gesetzgebung für sie hat dazu beigetragen, die Staatskirche zu einem leeren Namen zu machen. Die irische Kirche ist ein bloßer Name von jeher gewesen, eine vollendete Staats- oder Regierungskirche, eine komplette Hierarchie, vom Erzbischof abwärts bis zum Vikar, der weiter nichts fehlt als die Gemeinde, und deren Beruf darin besteht, für die leeren Wände zu predigen, zu beten und Litaneien abzusingen. Die englische Kirche hat zwar ein Publikum, obwohl sie auch, besonders in Wales und den Fabrikdistrikten ziemlich von den Dissenters verdrängt worden ist, aber die wohlbezahlten Seelenhirten bekümmern sich eben nicht viel um die Schafe. »Wenn ihr eine Priesterkaste in Verachtung bringen und stürzen wollt, so bezahlt sie gut«, sagt Bentham, und die englische und irische Kirche zeugen für die Wahrheit dieses Ausspruchs. Auf dem Lande und in den Städten in England ist dem Volke nichts verhaßter, nichts verächtlicher als ein church-of-England parson |Geistlicher der Kirche von England|. Und bei einem so frommen Volk wie dem englischen will das was bedeuten.
Es versteht sich, daß, je leerer und bedeutungsloser der Name der Hochkirche wird, desto fester hängt die konservative und überhaupt entschieden konstitutionelle Partei daran; die Trennung von Kirche und Staat könnte auch dem Lord John Russell Tränen entlocken; es versteht sich ebenfalls, daß, je leerer dieser Name wird, desto ärger und fühlbarer wird der Druck. Die irische Kirche besonders, weil die bedeutungsloseste, ist die verhaßteste; sie hat gar keinen Zweck, als das Volk zu erbittern, als es daran zu erinnern, daß es ein unterjochtes Volk ist, dem der Eroberer seine Religion und seine Institutionen aufzwängt.
England steht demnach jetzt auf dem Übergange vom bestimmten in den unbestimmten christlichen Staat, in den Staat, der keine bestimmte Konfession, sondern einen Durchschnitt aller existierenden Konfessionen, das unbestimmte Christentum zu seiner Basis macht. Natürlich hat schon der alte, bestimmte, christliche Staat sich gegen den Unglauben verwahrt, und die Apostasie-Akte von 1699 bestraft ihn mit Verlust auch des passiven Bürgerrechts und mit Gefängnis; die Akte ist nie abgeschafft worden, wird aber nie mehr in Ausführung gebracht. Ein anderes Gesetz, aus Elisabeths Zeiten herrührend, schreibt vor, daß jeder, der sonntags ohne gehörige Entschuldigung aus der Kirche bleibt (wenn ich nicht irre, ist sogar die bischöfliche Kirche vorgeschrieben, denn Elisabeth erkannte keine dissentierenden Kapellen an), mit Geldstrafe und respektive Gefängnis dazu anzuhalten ist. Dies Gesetz kommt auf dem Lande noch häufig in Ausführung; selbst hier im zivilisierten |583| Lancashire, ein paar Stunden von Manchester, gibt es einige bigotte Friedensrichter, die - wie M. Gibson, Deputierter für Manchester, vor vierzehn Tagen im Unterhause anführte - eine Menge Leute wegen unterlassenen Kirchenbesuchs zu mitunter sechswöchentlichem Gefängnis verurteilten. Die Hauptgesetze aber gegen den Unglauben sind die, welche jeden, der nicht an einen Gott oder eine jenseitige Belohnung oder Bestrafung glaubt, zur Ablegung eines Eides unfähig machen und die Gotteslästerung bestrafen. Gotteslästerung ist alles, was die Bibel oder die christliche Religion in Verachtung zu bringen strebt, und ebenso die direkte Leugnung der Existenz Gottes; die Strafe, die darauf steht, ist Gefängnis - gewöhnlich ein Jahr, und Geldstrafe.
[»Vorwärts!« Nr. 80 vom 5. Oktober 1844]
Aber auch der unbestimmte christliche Staat geht schon seinem Verfall entgegen, ehe er durch die Gesetzgebung zur offiziellen Anerkennung gekommen ist. Die Apostasie-Akte ist, wie gesagt, absolut; das Gebot des Kirchenbesuchs ist ebenfalls ziemlich veraltet und seine Durchführung nur Ausnahme; das Blasphemiegesetz fängt - dank der Furchtlosigkeit der englischen Sozialisten und besonders Richard Carliles - ebenfalls an zu veralten und wird nur hier und da in besonders bigotten Lokalitäten, z.B. Edinburgh, in Anwendung gebracht, und selbst eine Verweigerung des Eides wird, wo es eben angeht, vermieden. Die christliche Partei ist so schwach geworden, daß sie selbst einsieht, eine strenge Handhabung dieser Gesetze werde in kurzer Zeit ihre Aufhebung nach sich ziehen, und bleibt daher lieber ruhig, damit das Damoklesschwert der christlichen Gesetzgebung wenigstens über dem Haupt der Ungläubigen schweben bleibe und vielleicht als Drohung und Abschreckung fortwirke.
Außer den bis jetzt beurteilten positiven politischen Institutionen sind noch einige andere Dinge in den Bereich der Verfassung zu ziehen. Von den Rechten des Bürgers ist bis jetzt kaum die Rede gewesen; innerhalb der eigentlichen Konstitution hat das Individuum keine Rechte in England. Diese Rechte existieren entweder durch den Gebrauch oder die Kraft einzelner Statute, die mit der Konstitution in keinem Zusammenhang stehen. Wir werden sehen, wie diese sonderbare Trennung entstanden ist, und gehen für den Augenblick zur Kritik dieser Rechte über.
Das erste ist das Recht, daß jeder seine Meinung ungehindert und ohne vorherige Genehmigung der Regierung veröffentlichen darf - die Preßfreiheit. Es ist im ganzen genommen richtig, daß nirgend eine ausgedehntere Preßfreiheit herrscht wie in England; und doch ist diese Freiheit hier noch |584| sehr beschränkt. Das Libelgesetz, das Hochverratsgesetz und das Blasphemiegesetz lasten schwer auf der Presse, und wenn Preßverfolgungen selten sind, so liegt das nicht am Gesetz, sondern an der Furcht der Regierung vor der unausbleiblichen Unpopularität, die die Folge von Schritten gegen die Presse sein wurde. Die englischen Zeitungen aller Parteien begehen täglich Preßvergehen, sowohl gegen die Regierung wie gegen einzelne, aber man läßt sie alle ruhig passieren, wartet, bis man imstande ist, einen politischen Prozeß anzufangen und nimmt dann bei der Gelegenheit die Presse mit. So ist's mit den Chartisten 1842, so neulich mit den irischen Repealern gegangen. Die englische Preßfreiheit lebt seit hundert Jahren ebensowohl von der Gnade, wie die preußische Preßfreiheit von 1842 tat.
Das zweite »angeborne Recht« (birthright) des Engländers ist das Recht der Volksversammlung, ein Recht, das bis jetzt kein anderes Volk in Europa genießt. Dies Recht, obwohl uralt, ist später in einem Statut als »das Recht des Volks, sich zu versammeln, um seine Beschwerden zu diskutieren und die Legislatur um Abhülfe derselben zu petitionieren«, ausgesprochen worden. Hierin liegt schon eine Beschränkung. Wenn keine Petition das Resultat eines Meetings ist, so bekommt dies dadurch wo nicht geradezu ungesetzlichen, doch sehr zweideutigen Charakter. In O'Connells Prozeß wurde es von der Krone besonders hervorgehoben, daß die Meetings, die als ungesetzlich geschildert wurden, nicht zur Beratung von Petitionen berufen waren. Die Hauptbeschränkung ist aber die polizeiliche; die Zentral- oder Lokalregierung kann jedes Meeting vorher verbieten oder unterbrechen und auflösen, und dies hat sie nicht nur bei Clontarf, sondern in England selbst bei chartistischen und sozialistischen Meetings oft genug getan. Das aber gilt nicht für einen Angriff auf die angebornen Rechte der Engländer, weil die Chartisten und Sozialisten arme Teufel und also rechtlos sind; danach kräht kein Hahn außer dem »Northern Star« und der »New Moral World«, und daher erfährt man davon auf dem Kontinent nichts.
Ferner das Assoziationsrecht. Alle Assoziationen, die gesetzliche Zwecke mit gesetzlichen Mitteln verfolgen, sind erlaubt; sie dürfen aber nur jedesmal eine große Gesellschaft bilden und keine Zweigassoziationen einschließen. Die Bildung von Gesellschaften, die sich in lokale Zweige mit besonderer Organisation teilen, ist nur zu wohltätigen, überhaupt pekuniären Zwecken erlaubt und darf nur auf ein Zertifikat eines dazu ernannten Beamten hier begonnen werden. Die Sozialisten erlangten ein solches Zertifikat für ihre Assoziation, indem sie einen derartigen Zweck angaben; den Chartisten wurde es verweigert, obwohl sie die Konstitution der sozialistischen Gesellschaft wörtlich in der ihrigen kopierten. Sie sind jetzt gezwungen, das |585| Gesetz zu umgehen und dadurch in die Lage versetzt, daß ein einziger Schreibfehler eines einzigen Mitgliedes der chartistischen Assoziation die ganze Gesellschaft in die Fallstricke des Gesetzes verwickeln kann. Aber auch abgesehen davon, ist das Assoziationsrecht in seiner vollen Ausdehnung ein Vorrecht der Reichen; zu einer Assoziation gehört vor allem Geld, und es ist der reichen Korngesetz-Ligue leichter, Hunderttausende aufzubringen, als der armen chartistischen Gesellschaft oder der Union britischer Bergleute, die bloßen Kosten der Assoziation zu bestreiten. Und eine Assoziation, die keine Fonds zur Verfügung hat, will wenig bedeuten und kann keine Agitation machen.
[»Vorwärts!« Nr. 83 vom 16. Oktober 1844]
Das Recht des Habeas-Corpus, d.h. das Recht jedes Angeklagten (ausgenommen ist der Fall des Hochverrats), bis zur Eröffnung des Prozesses gegen Kaution freigelassen zu werden, dies vielgepriesene Recht ist wiederum ein Privilegium der Reichen. Der Arme kann keine Bürgschaft stellen und muß daher ins Gefängnis wandern.
Das letzte dieser Rechte des Individuums ist das Recht eines jeden, nur von seinesgleichen gerichtet zu werden, und auch dies ist ein Privilegium des Reichen. Der Arme wird nicht von seinesgleichen, er wird in allen Fällen von seinen gebornen Feinden gerichtet, denn in England sind die Reichen und die Armen in offnem Krieg. Die Geschwornen müssen gewisse Qualifikationen besitzen, und wie diese beschaffen sind, geht daraus hervor, daß die Juryliste von Dublin, einer Stadt von 250.000 Einwohnern, nur achthundert Qualifizierte stark ist. In den letzten Chartistenprozessen in Lancaster, Warwick und Stafford wurden die Arbeiter von Grundbesitzern und Pächtern, die meist Tories, und Fabrikanten oder Kaufleuten, die meist Whigs, in jedem Falle aber die Feinde der Chartisten und der Arbeiter sind, gerichtet. Das ist aber nicht alles. Eine sogenannte »unparteiliche Jury« ist überhaupt ein Unding. Als O'Connell vor vier Wochen in Dublin gerichtet wurde, war jeder Jurymann als Protestant und Tory sein Feind. »Seinesgleichen« wären Katholiken und Repealer gewesen - aber selbst diese nicht, denn sie waren seine Freunde. Ein Katholik in der Jury hätte das Verdikt, hätte jedes Verdikt, mit Ausnahme einer Freisprechung, unmöglich gemacht. Hier ist der Fall eklatant; aber im Grunde ist es in jedem beliebigen Fall dasselbe. Das Geschwornengericht ist seinem Wesen nach eine politische und keine juristische Institution; aber weil alles juristische Wesen ursprünglich politischer Natur ist, kommt in ihr das wahre Juristentum zur Erscheinung, und das englische Geschwornengericht, weil das ausgebildetste, ist die Vollendung |586| der juristischen Lüge und Unsittlichkeit. Man fängt an mit der Fiktion des »unparteilichen Geschwornen«; man schärft den Geschwornen ein, alles zu vergessen, was sie etwa vor der Untersuchung in Beziehung auf den vorliegenden Fall gehört haben; bloß nach dem hier im Gerichtshof vorgebrachten Zeugnis zu urteilen - als ob so etwas nur möglich wäre! Man macht die zweite Fiktion des »unparteilichen Richters«, der das Gesetz entwickeln und die von beiden Seiten vorgebrachten Grunde ohne Parteilichkeit, ganz »objektiv« zusammenstellen soll - als ob das möglich wäre! Ja, man verlangt von dem Richter, daß er besonders und trotz alledem keinen Einfluß auf das Urteil der Geschwornen ausüben, ihnen das Verdikt nicht unter den Fuß geben soll - d.h. er soll die Prämissen so legen, wie sie gelegt werden müssen, um den Schluß zu ziehen; aber er soll den Schluß selbst nicht ziehen, er darf ihn selbst für sich nicht ziehen, denn das würde ja auf seine Darlegung der Prämissen einen Einfluß ausüben - alle diese und hundert andere Unmöglichkeiten, Unmenschlichkeiten und Dummheiten verlangt man, bloß um die ursprüngliche Dummheit und Unmenschlichkeit anständig zu verdecken. Aber die Praxis läßt sich nicht irremachen, in der Praxis kehrt man sich an all das Zeug nicht, der Richter gibt der Jury deutlich genug zu verstehen, was für ein Verdikt sie zu bringen hat, und die gehorsame Jury bringt das Verdikt auch regelmäßig ein.
Weiter! Der Angeklagte muß auf alle Weise geschützt werden, der Angeklagte ist, wie der König, heilig und unverletzlich und kann kein Unrecht tun, d.h., er kann gar nichts tun, und wenn er was tut, so hat's keine Gültigkeit. Der Angeklagte mag sein Verbrechen eingestehen, das hilft ihm gar nichts. Das Gesetz beschließt, daß er nicht glaubwürdig ist; ich glaube, es war 1819, daß ein Mann seine Frau des Ehebruchs bezichtigte, nachdem sie während einer Krankheit, die ihr tödlich schien, ihrem Mann den begangenen Ehebruch gestanden hatte - aber der Verteidiger der Frau wandte ein, daß das Geständnis der Angeklagten kein Beweisgrund sei, und die Klage wurde abgewiesen |Wade, »British History«, London, 1838. Anm. F. E.|. Die Heiligkeit des Angeklagten wird dann ferner in dem juristischen Formenwesen durchgeführt, mit dem die englische Jury bekleidet ist und die den rabulistischen Kniffen der Advokaten ein so überaus ergiebiges Feld bietet. Es geht ins Unglaubliche, was für lächerliche Formfehler einen ganzen Prozeß umwerfen können. 1800 wurde ein Mann wegen Fälschung schuldig befunden, aber freigelassen, weil sein Verteidiger noch vor Urteilsfällung entdeckte, daß in der falschen Banknote der Name abgekürzt Bartw, dagegen in der Anklageakte vollständig Bartholomew geschrieben war. Der Richter, wie gesagt, nahm die Einwendung für genügend an und ließ den |587| Überführten frei.|Ebenda. Anm. F. E.| - 1827 wurde in Winchester ein Weib des Kindesmords angeklagt, aber freigesprochen, weil in dem Verdikt der Totenschaujury diese »auf ihren Eid« (The jurors of our Lord the King upon their oath present that, etc.) versicherte, daß dies und jenes geschehen sei, wo doch diese aus dreizehn Männern bestehende Jury nicht einen Eid, sondern dreizehn Eide abgelegt habe, und es also hätte heißen müssen: »Upon their oaths«. |Ebenda. Anm. F. E.| Vor einem Jahre wurde in Liverpool ein Junge, der jemandem an einem Sonntagabend das Schnupftuch aus der Tasche stahl, auf der Tat ertappt und verhaftet. Sein Vater wandte ein, der Polizeidiener habe ihn ungesetzlich verhaftet, weil ein Gesetz vorschreibt, daß niemand am Sonntage diejenige Arbeit tun dürfe, wodurch er sich seinen Unterhalt erwerbe; die Polizei dürfe also niemanden am Sonntage verhaften. Der Richter war damit einverstanden, examinierte aber den Jungen weiter, und als dieser gestand, er sei ein Dieb von Profession, wurde er um 5 Schillinge gestraft, weil er am Sonntage seinem Beruf nachgegangen sei. Ich könnte diese Beispiele verhundertfachen, aber sie reden für sich selbst schon genug. Das englische Gesetz heiligt den Angeklagten und wendet sich gegen die Gesellschaft, zu deren Schutz es eigentlich da ist. Wie in Sparta wird nicht das Verbrechen, sondern die Dummheit, mit der es begangen wurde, bestraft. Jeder Schutz wendet sich gegen den, den er schützen will; das Gesetz will die Gesellschaft schützen und greift sie an; es will den Angeklagten schützen und verletzt ihn - denn es ist klar, daß jeder, der zu arm ist, der offiziellen Rabulisterei einen ebenso rabulistischen Verteidiger entgegenzustellen, alle Formen gegen sich hat, die zu seinem Schutz geschaffen wurden. Wer zu arm ist, um einen Verteidiger oder eine gehörige Anzahl Zeugen zu stellen, ist in jedem irgend zweifelhaften Fall verloren. Er bekommt nur die Anklageakte und die ursprünglich vor dem Friedensrichter gemachten Depositionen vorher zu sehen, weiß also nicht das Detail dessen, was gegen ihn vorgebracht wird (und gerade für den Unschuldigen ist das am gefährlichsten); er muß sogleich, nachdem die Anklage geschlossen ist, antworten, darf nur einmal sprechen; erledigt er nicht alles, fehlt ein Zeuge, den er nicht für nötig hielt, so ist er verloren.
[»Vorwärts!« Nr. 84 vom 19. Oktober 1844]
Die Vollendung des Ganzen aber ist die Bestimmung, daß die zwölf Geschwornen in ihrem Verdikt einstimmig sein müssen.
Sie werden in einem Zimmer eingesperrt und nicht eher losgelassen, als bis sie einig sind oder der Richter einsieht, daß sie nicht zur Übereinstimmung |588|* zu bringen sind. Es ist aber durchaus unmenschlich und geht so sehr gegen alle menschliche Natur an, daß es lächerlich wird, von zwölf Menschen zu verlangen, daß sie über einen Punkt ganz derselben Meinung sein sollen. Aber es ist konsequent. Das Inquisitionsverfahren foltert den Angeklagten körperlich oder geistig; das Geschwornengericht erklärt den Angeklagten für heilig und foltert die Zeugen durch ein Kreuzverhör, das dem des Inquisitionsgerichts gar nichts nachgibt, ja es foltert die Geschwornen; es muß ein Verdikt haben, und wenn die Welt darüber zugrunde gehen sollte; die Jury wird mit Gefängnis bestraft, bis sie ein Verdikt gibt; und wenn sie wirklich die Kaprice haben sollte, ihren Eid halten zu wollen, so wird eine neue Jury ernannt, der Prozeß noch einmal durchgemacht, und so fort, bis entweder die Ankläger oder die Geschwornen des Kampfs müde werden und sich auf Gnade und Ungnade ergeben. Beweis genug, daß das ganze Juristentum nicht ohne die Folter bestehen kann und in allen Fällen eine Barbarei ist. Es kann aber gar nicht anders sein; wenn man mathematische Gewißheit über Dinge haben will, die keine solche Gewißheit zulassen, so muß man notwendig in Unsinn und Barbarei geraten. Die Praxis bringt wiederum an den Tag, was hinter all diesen Dingen steckt; in der Praxis macht die Jury sich's leicht und bricht ihren Eid, wie das nicht anders geht, in aller Seelenruhe. 1824 konnte eine Jury in Oxford nicht übereinkommen. Einer behauptete: schuldig; elf: nichtschuldig. Endlich wurde ein Vertrag geschlossen; der eine Dissentient schrieb auf die Anklageakte: Schuldig, und zog sich zurück; dann kam der Vorsitzer mit den andern, nahm das Papier auf und schrieb vor das Schuldig: Nicht (Wade, »British History«). - Einen andern Fall erzählt Fonblanque, Redakteur des »Examiner«, in seinem Werk »England under seven Administrations«. Hier konnte eine Jury auch nicht fertig werden, und zuletzt wurde zum Lose Zuflucht genommen; man nahm zwei Strohhalme und zog; welche Partei das längste zog, deren Meinung wurde adoptiert.
Da wir einmal bei den juristischen Institutionen sind, so können wir, um den Überblick über den Rechtszustand Englands zu vervollständigen, uns die Sache noch etwas genauer ansehen. Der englische Strafkodex ist bekanntlich der strengste in Europa. Noch 1810 gab er an Barbarei der Carolina nichts nach; Verbrennen, Rädern, Vierteilen, Herausnehmen der Eingeweide bei lebendigem Leibe usw. waren sehr beliebte Kategorien. Seitdem sind zwar die empörendsten Scheußlichkeiten abgeschafft, aber noch immer stehen eine Menge Roheiten und Infamien unangetastet auf dem Statutenbuch. Die Todesstrafe steht auf sieben Verbrechen (Mord, Hochverrat, Notzucht, Sodomie, Einbruch, Raub mit Gewalt und Brandstiftung mit der Absicht zu |589| morden), und auch auf diese Zahl ist die früher noch viel ausgedehntere Todesstrafe erst 1837 beschränkt worden; und außer ihr kennt das englische Strafgesetz noch zwei ausgesucht barbarische Strafarten - Transportation oder Vertierung durch Gesellschaft, und einsame Einsperrung oder Vertierung durch Einsamkeit. Beide könnten nicht grausamer und niederträchtiger ausgesucht sein, um die Opfer des Gesetzes mit systematischer Konsequenz körperlich, intellektuell und moralisch zu verderben und sie unter die Bestie herabzudrücken. Der transportierte Verbrecher gerät in einen solchen Abgrund von Demoralisation, von ekelhafter Bestialität, daß die beste Natur darin in sechs Monaten unterliegen muß; wer Lust hat, die Berichte von Augenzeugen über Neusüdwales und Norfolk-Island zu lesen, wird mir recht geben, wenn ich behaupte, daß alles oben Gesagte noch lange nicht an die Wirklichkeit reicht. Der einsam Eingesperrte wird wahnsinnig gemacht; das Mustergefängnis in London hatte nach drei Monaten seines Bestehens schon drei Wahnsinnige an Bedlam abzugeben, von dem religiösen Wahnsinn, der gewöhnlich noch für Sinn gilt, gar nicht zu reden.
Die Strafgesetze gegen politische Verbrechen sind fast genau in denselben Ausdrücken abgefaßt wie die preußischen; besonders die »Aufreizung zur Unzufriedenheit« (exciting discontent) und »aufrührerische Sprache« (seditious language) kommen in derselben unbestimmten Fassung vor, die dem Richter und der Jury einen so weiten Spielraum lassen. Die Strafen sind auch hier strenger als anderswo; Transportation ist die Hauptkategorie.
Wenn diese strengen Strafen und diese unbestimmten politischen Verbrechen in der Praxis nicht so viel auf sich haben, als nach dem Gesetz scheinen sollte, so ist dies einerseits der Fehler des Gesetzes selbst, das in einer solchen Verwirrung und Unklarheit steckt, daß ein geschickter Advokat überall Schwierigkeiten zugunsten des Angeklagten erheben kann. Das englische Gesetz ist entweder gemeines Recht (common law), d.h. ungeschriebenes Recht, wie es zu der Zeit existierte, von welcher an man anfing die Statute zu sammeln, und später von juristischen Autoritäten zusammengestellt wurde; dies Recht ist natürlich in den wichtigsten Punkten ungewiß und zweifelhaft; oder Statutarrecht (statute law), das in einer unendlichen Reihe einzelner, seit fünfhundert Jahren gesammelten Parlamentakten besteht, die sich gegenseitig widersprechen und an die Stelle eines »Rechtszustandes« einen vollkommen rechtlosen Zustand stellen. Der Advokat ist hier alles; wer seine Zeit recht gründlich an diesen juristischen Wirrwarr, an dies Chaos von Widersprüchen verschwendet hat, ist in einem englischen Gerichtshofe allmächtig. Die Unsicherheit des Gesetzes führte natürlich zum Autoritätsglauben an die Entscheidungen früherer Richter in ähnlichen |590| Fällen, und hierdurch wird sie nur schlimmer gemacht, denn diese Entscheidungen widersprechen sich ebenfalls, und das Resultat der Untersuchung hängt wieder von der Belesenheit und Geistesgegenwart des Advokaten ab. Andrerseits ist die Bedeutungslosigkeit des englischen Strafgesetzes aber wiederum bloß Gnade etc., Rücksicht auf die öffentliche Meinung, die zu nehmen die Regierung durch das Gesetz gar nicht gebunden ist; und daß die Legislatur gar nicht gesonnen ist, dies Verhältnis zu ändern, zeigt die heftige Opposition gegen alle Gesetzreformen. Aber man vergesse nie, daß der Besitz herrscht, und daß daher diese Gnade nur gegen »respektable« Verbrecher ausgeübt wird; auf den Armen, den Paria, den Proletarier fällt die ganze Wucht der gesetzlichen Barbarei, und kein Hahn kräht danach.
Diese Begünstigung des Reichen ist aber auch im Gesetze ausdrücklich ausgesprochen. Während alle schweren Verbrechen mit den schwersten Strafen belegt sind, stehen Geldstrafen auf fast allen untergeordneteren |Im »Vorwärts!« : unterdrückenderen| Vergehen, Geldstrafen, die natürlich für Arme und Reiche dieselben sind, aber dem Reichen wenig oder nichts anhaben können, während der Arme sie in neun Fällen aus zehnen nicht bezahlen kann und dann ohne weiteres in »default of payment« ein paar Monate auf die Tretmühle geschickt wird. Man lese nur die Polizeiberichte im ersten besten englischen Tagblatte, um sich von der Wahrheit dieser Behauptung zu überzeugen. Die Mißhandlung der Armen und die Begünstigung der Reichen in allen Gerichtshöfen ist so allgemein, wird so offen, so unverschämt betrieben und so schamlos von den Zeitungen berichtet, daß man selten eine Zeitung ohne innere Empörung lesen kann. So ein Reicher wird immer mit einer ungemeinen Höflichkeit behandelt, und so brutal sein Vergehen auch gewesen sein mag, so »tut es den Richtern doch stets sehr leid«, daß sie ihn in eine gewöhnlich höchst lumpige Geldstrafe zu verurteilen haben. Die Verwaltung des Gesetzes ist in dieser Hinsicht noch viel unmenschlicher als das Gesetz selbst; »Law grinds the poor, and rich men rule the law« |»Das Gesetz drückt die Armen, und die Reichen beherrschen das Gesetz«| und »there is one law for the poor, and another for the rich« |»es gibt ein Gesetz für die Armen, und ein anderes für die Reichen«| sind vollkommen wahre und längst sprichwörtlich gewordene Ausdrücke. Aber wie kann das anders sein? Die Friedensrichter wie die Geschwornen sind selbst reich, sind aus der Mittelklasse genommen und daher parteilich für ihresgleichen und geborne Feinde der Armen. Und wenn der soziale Einfluß des Besitzes, der jetzt nicht erörtert werden kann, in Betracht genommen wird, so kann sich wahrlich kein Mensch über einen so barbarischen Stand der Dinge wundern.
|591| Von der direkt sozialen Gesetzgebung, in der die Niederträchtigkeit kulminiert, wird später die Rede sein. An dieser Stelle könnte sie ohnehin nicht in ihrer vollen Bedeutung dargestellt werden.
Fassen wir das Resultat dieser Kritik des englischen Rechtszustandes zusammen. Was vom Standpunkte des »Rechtsstaats« aus dagegen gesagt werden kann, ist höchst gleichgültig. Daß England keine offizielle Demokratie ist, kann uns nicht gegen seine Institutionen einnehmen. Für uns hat nur das eine Wichtigkeit, das sich uns überall gezeigt hat: daß Theorie und Praxis im schreiendsten Widerspruch stehen. Alle Mächte der Verfassung; Krone, Oberhaus und Unterhaus, haben sich vor unsern Augen aufgelöst; wir haben gesehen, daß die Staatskirchen und alle sogenannten angebornen Rechte der Engländer leere Namen sind, daß selbst das Geschwornengericht in der Wirklichkeit nur ein Schein ist, daß das Gesetz selbst keine Existenz hat, kurz, daß ein Staat, der sich auf eine genau bestimmte, gesetzliche Basis gestellt hat, diese seine Basis verleugnet und mißhandelt. Der Engländer ist nicht frei durch das Gesetz, sondern trotz dem Gesetze, wenn er überhaupt frei sein soll.
Wir haben ferner gesehen, welch ein Wust von Lügen und Unsittlichkeit aus diesem Zustande folgt; man fällt vor leeren Namen nieder und verleugnet die Wirklichkeit, man will von ihr nichts wissen, sträubt sich gegen die Anerkennung dessen, was wirklich existiert, was man selbst geschaffen hat; man belügt sich selbst und führt eine konventionelle Sprache mit künstlichen Kategorien ein, deren jede ein Pasquill auf die Wirklichkeit ist, und klammert sich ängstlich an diese hohlen Abstraktionen an, um sich nur ja nicht gestehen zu müssen, daß es im Leben, in der Praxis sich um ganz andre Dinge handelt. Die ganze englische Verfassung und die ganze konstitutionelle öffentliche Meinung ist nichts als eine große Lüge, die durch eine Anzahl kleiner Lügen immer wieder unterstützt und verdeckt wird, wenn sie hier oder da in ihrem wahren Wesen etwas zu offen an den Tag kommt. Und selbst wenn man zur Einsicht kommt, daß all dies Gemächte eitel Unwahrheit und Fiktion ist, selbst dann hält man noch fest daran, ja fester als je, damit nur ja die leeren Worte, die paar sinnlos zusammengestellten Buchstaben nicht auseinanderfallen, denn diese Worte sind ja eben die Angeln der Welt, und mit ihnen müßte die Welt und die Menschheit in die Nacht der Verwirrung stürzen! Man kann sich von diesem Gewebe von offener und versteckter Lüge, von Heuchelei und Selbstbetrug nur mit einem gründlichen Ekel abwenden.
Kann ein solcher Zustand von Dauer sein? Kein Gedanke daran. Der Kampf der Praxis gegen die Theorie, der Wirklichkeit gegen die Abstraktion, des Lebens gegen hohle Worte ohne Bedeutung, mit einem Wort, des |592| Menschen gegen die Unmenschlichkeit muß sich entscheiden, und auf welcher Seite der Sieg sein wird, unterliegt keiner Frage.
Der Kampf ist bereits da. Die Konstitution ist in ihren Grundfesten erschüttert. Wie die nächste Zukunft sich gestalten wird, geht aus dem Gesagten hervor. Die neuen, fremdartigen Elemente in der Verfassung sind demokratischer Natur; auch die öffentliche Meinung, wie sich zeigen wird, entwickelt sich nach der demokratischen Seite hin; die nächste Zukunft Englands wird die Demokratie sein.
Aber was für eine Demokratie! Nicht die der französischen Revolution, deren Gegensatz die Monarchie und der Feudalismus war, sondern die Demokratie, deren Gegensatz die Mittelklasse und der Besitz ist. Dies zeigt die ganze vorhergehende Entwicklung. Die Mittelklasse und der Besitz herrschen; der Arme ist rechtlos, wird gedrückt und geschunden, die Konstitution verleugnet, das Gesetz mißhandelt ihn; der Kampf der Demokratie gegen die Aristokratie in England ist der Kampf der Armen gegen die Reichen. Die Demokratie, der England entgegengeht, ist eine soziale Demokratie.
Aber die bloße Demokratie ist nicht fähig, soziale Übel zu heilen. Die demokratische Gleichheit ist eine Chimäre, der Kampf der Armen gegen die Reichen kann nicht auf dem Boden der Demokratie oder der Politik überhaupt ausgekämpft werden. Auch diese Stufe ist also nur ein Übergang, das letzte rein politische Mittel, das noch zu versuchen ist und aus dem sich sogleich ein neues Element, ein über alles politische Wesen hinausgehendes Prinzip entwickeln muß.
Dies Prinzip ist das des Sozialismus.